Foto: Großartige Sänger: Gerard Quinn als Gefangener (hinten) und Carla Filipcic Holm als Mutter in Luigi Dallapiccolas Operneinakter "Il prigioniero".
© Oliver Fantitsch
Text:Detlef Brandenburg, am 12. April 2015
Die Gefangenenoper „Il prigioniero“ des italienischen Avantgardisten Luigi Dallapiccola ist eines jener vergessenen Werke, an das zu erinnern sich lohnt. Gegenüber dem prominenteren Zeitgenossen Luigi Nono nahm Dallapiccola eine ähnliche Stellung ein wie Henze gegenüber der seriellen Avantgarde in Deutschland. Auch er war politisch engagiert, auch ihm ging es um eine moderate Aussöhnung zwischen der Tradition und der fortschrittlichen Serialität. Wobei Tradition für ihn hieß: italienische Kantabilität und veristische Ausdrucksintensität, die er auf interessant eigenwillige Weise mit dem Komponieren „mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ zu verschmelzen wusste. „Il prigioniero“ ist kompositorisch wie auch thematisch ein zentrales Werk. Dallapiccola beschreibt hier die seelische Folter, die ein Kerkermeister zur Zeit der Gegenreformation unter Philipp II. einem offenbar „politischen“ Gefangenen antut, indem er ihm zunächst die Befreiung vorgaukelt, um ihn dann zum Scheiterhaufen zu führen. Als Gegenpol der Mitmenschlichkeit führt Dallapiccola die sich ängstigende Mutter ein, die das grausame Ende erahnt, ohne den Sohn retten zu können.
„Il prigioniero“ ist ein Einakter – und damit nicht abendfüllend. Vor einigen Wochen hatte ihn die Oper Köln zusammen mit Bernd Alois Zimmermanns „Ekklesiastischer Aktion“ auf die Bühne gebracht (Näheres hier). Jetzt hat die aus Besançon gebürtige, sowohl als Tänzerin wie auch als Choreographin und Regisseurin tätige Pascale-Sabine Chevroton „Suor Angelica“ aus Giacomo Puccinis Operndrilling „Il trittico“ herausgelöst und am Theater Lübeck dem „Prigioniero“ an die Seite gestellt. Hier der mit kalt-greller Unerbittlichkeit zum Scheiterhaufen getriebene Gefangene, dort die wegen eines unehelich empfangenen Sohnes ins Kloster verbannte, am Ende mit leuchtender Klanggloriole gen Himmel auffahrende Nonne: Auf den ersten Blick ist das eine ziemlich kühne, bei näherem Hinsehen aber gerade in der Gegensätzlichkeit spannende Kombination. Hier wie dort muss ein Mensch dafür büßen, dass er gegen politisch-konfessionelle beziehungsweise moralisch-religiöse Normen verstoßen hat; hier wie dort bildet die Mutter-Kind-Beziehung den Gegenpol zu einer unbarmherzigen Welt; und hier wie dort spielen religiöse Themen und Institutionen eine wichtige Rolle. Auf der Basis solcher Beziehungen könnte man das Ende von Dallapiccolas „Prigioniero“ geradezu als Antithese zu Puccinis verklärungskitschigem Finale lesen: als Kontrafaktur einer opernpompösen Versöhnungsgeste, die bereits bei der Uraufführung unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg kaum Glaubwürdigkeit beanspruchen konnte.
Leider sucht Chevroton das Verbindende statt der präzisen Werkanalyse in einem hanebüchenen Regieeinfall: Sie will nicht nur vom Leid der Gefangenen erzählen, sondern auch noch vom Schicksal derer, die vor der Drohung solchen Leides fliehen – und dann, als Boat People oder Menschenfracht in anonymen Containern, in Flüchtlingslagern landen. Deshalb beginnt in Lübeck der Abend – in Verkehrung der Entstehungsdaten der Werke – in Dallapiccolas Kerker und endet in Puccinis zum Flüchtlingscamp umfunktioniertem Nonnenkloster. Und es ist ja ehrenwert, dass der Regisseurin solche Schicksale am Herzen liegen. Aber sie hätte sich dann Werke aussuchen sollen, die davon auch wirklich erzählen (zum Beispiel Nonos Musiktheater „Intolleranza“, das unter diesem Aspekt eine durchaus plausible „Fortsetzung“ des „Prigioniero“ abgeben könnte). Dallapiccolas Gefangener und Puccinis Klosterschwester jedoch fallen den Unterdrückungsmechanismen ihrer eigenen Gesellschaft zum Opfer, nicht dem inhumanen Flüchtlings-Management einer fremden. An dieser Diskrepanz scheitert Chevrotons Regieansatz – und zwar auf ganzer Linie.
Als Szenerie für beide Teile hat Jürgen Kirner eine wuchtige Containerarchitektur auf die Bühne gestellt, was gut aussieht, aber den Nachteil hat, dass man zu Anfang, bei „Il prigioniero“, ziemlich ziellos herumrätselt, warum diese Oper denn ausgerechnet im Containerterminal von Altenwerder oder am Burchardkai spielen muss – und wenn das schon sein muss, warum dann ausgerechnet hier Kerkermeister und Priester so schicke Business-Anzüge tragen. Ansonsten wird die Handlung in hyperrealistischer Stummfilm-Gestik nacherzählt und der Zuschauer etwas ratlos in die Pause entlassen. Danach, mit dem Beginn von „Suor Angelica“, wird das Rätsel gelöst: Eine Menschengruppe in folkloristisch angehauchten Billigklamotten erweckt sofort Assoziationen an die globalen Flüchtlingsströme (Kostüme: Tanja Liebermann). Und für die, die es immer noch nicht kapiert haben, werden deren Wege von den kleinen Schülern des im Lager stattfinden Unterrichts alsbald auf eine Landkarte gezeichnet. Aha! Unter den bunten Klamotten aber tragen die weiblichen Flüchtlinge blaue Mädchenpensionats-Tracht, die hier fürs Nonnenhabit einsteht. Und für die Aufsicht sind auch hier schicke Menschen in edler Businessware zuständig – hier reiht sich auch die fürstliche Tante der Angelica ein.
Damit ist das Kloster als herzloser Zwangsunterbringungsbetrieb für vertriebene Menschen denunziert, der offenbar mit der UNO-Flüchtlingshilfe kooperiert. Jedenfalls sorgt anstelle der beiden Schwestern Almosensammlerinnen ein aus dem Schnürboden herabgelassenes Netz mit UNHCR-Kartons für die Versorgung des Camps. Über der Containerwand aber wogt ebenso dekorativ wie deplatziert das Meer. Wie diese ganze Szenerie mit den beiden Opern zusammenstimmen soll, fragt man sich da schon lange nicht mehr. Es passt ja noch nicht mal in sich. Flüchtlinge stranden weder im Nonnenkloster noch im Mädchenpensionat und werden auch nicht von schicken Managern beaufsichtigt. Die Krönung der Sinnverirrung aber ist der von Chevroton draufgesetzte Erlösungsschluss: Während Puccini sich immerhin noch auf die christliche Gnadenmetaphysik, wie wackelig auch immer, stützen konnte, werden in Lübeck von Gnaden der Regie lauter selige Familien wieder zusammengeführt, mit Angelica und ihrem Söhnchen als Pietà inmitten. Die Privatfamilie als Erlösungsmodell für gesellschaftliche Gewalt und kriegerischen Terror?! Noch nicht einmal Puccini ist auf den Gedanken gekommen, seinem Publikum einen solchen Kitsch aus Biedermeiers Gartenlaube zuzumuten. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Schade. Denn musikalisch hat sich die Reise nach Lübeck gelohnt. Andreas Wolf, 1. Kapellmeister an der Oper Lübeck, leitet die Gesangssolisten, den von Joseph Feigl einstudierten Chor und das Philharmonische Orchester zu einer beachtlichen Interpretation von Dallapiccolas „Prigioniero“ an: plastisch in den Konturen, empathisch in den Gesten und mit blitzblanken Konturen in den Solostimmen der Bläser. Und der schottische Bariton Gerard Quinn, seit 2001 Ensemblemitglied in Lübeck, bietet eine vorzügliche Interpretation der Titelpartie, in der er herbe Ausdruckskraft und kantable Kultur sehr einfühlsam ausbalanciert. Auch die argentinische Sopranistin Carla Filipcic Holm als (regelmäßiger) Gast in Lübeck gibt der Mutter des Gefangenen eindrucksvolle, große Statur. Diese allerdings war dann bei ihrer sehr emotional gesungenen „Angelica“ ein gewisses interpretatorisches Problem, weil sie die lyrisch empfindsame Nonne anlegte wie eine verhinderte Butterfly – eindrucksvoll zwar, aber allzu dramatisch-expressiv. Das ging auch vom Dirigenten aus, der in der Partitur weniger die impressionistische Finesse suchte als vielmehr die direkte Ausdruckskraft, was dann streckenweise etwas bombastisch wirkte.
Trotzdem: Musikalisch war dieser in den übrigen Partien teils achtbar, teils anfechtbar, aber durchweg präsent durchbesetzte Doppelabend ein beeindruckender musikalischer Leistungsbeweis. Das Publikum bejubelte die musikalischen Protagonisten wie die Regie gleichermaßen.