Foto: Goyo Monteros "Cinderella" am Staatstheater Nürnberg © Jesús Vallinas
Text:Dieter Stoll, am 30. Dezember 2013
Der weihnachtsnahe Premierentermin und die unter den vielen Möglichkeiten zwar originalgetreue, aber inzwischen absolut Trickfilm- und Eisrevue-näheste Wahl des Titels führt das Publikum von Goyo Monteros „Cinderella“-Uraufführung zum Prokofjew-Soundtrack zunächst mal auf eine falsche Fährte. Wo Walt Disney zu lauern scheint, lässt er Robert Walser winken; wo Aschenputtel sonst sofort Prinzessin der Herzen mit Putzstreifen ist, krabbelt erst mal ein weiblicher Kaspar Hauser lallend durch die zum Überlebensraum erklärte Hundehütte. Nürnbergs Ballettchef aus Spanien, der in den letzten Jahren mit seinen ebenso ambitionierten wie effektsicheren Überprüfungs-Produktionen populärster Titel die Sparte zur meistbejubelten des Staatstheaters machte, schiebt die gebündelte Aufführungstradition beiseite. Er weiß, was er entsorgt, hat er doch in seiner Zeit als Solotänzer unter anderem in Berlin selber mitgewirkt am sprungbereiten Märchenzauber in Geschenkverpackung.
Montero erzählt die Story von der (vermuteten) Vorgeschichte her. Im Zeitraffer wird Aschenputtels Schicksal – ihre Geburt, der Tod ihrer Mutter, die Tyrannei in der Patchwork-Familie, die hilflose Randerscheinung des kranken Vaters im Rollstuhl – skizziert. Das unterdrückte Stiefkind weiß nichts von der Welt draußen, denn es wird tatsächlich „wie ein Hund“ gehalten. Es winselt und knurrt und muss später den aufrechten Gang erst lernen. Die erste Hälfte des Abends gehört ganz dem entsetzten Blick auf diese Gefangenschaft (mag sein, dass Assoziationen zum Fall Kampusch mitschwingen), ehe das fliegende Einsatzkommando aus dem Taubenschlag in märchenhafter Selbstverständlichkeit den Kontakt zum fernen Prinzen herstellen darf. Max Zachrisson, wie Titelheldin Sayaka Kado ein besonderes Talent in der bestens aufgestellten Compagnie, spielt ihn als Fall für Therapeuten. Eigentlich schüchtern verprügelt der Gelangweilte bei Hofe in Hexen-Maske seine Ball-Gäste, kann sich aber der Aufdringlichkeiten der als Weiber-Trio auftretenden Cinderella-Peiniger (geballte Travestie-Attacke der ätzenden Art: Mutter Carlos Lázaro, Töchter Saúl Vega und Oscar Alonso) kaum erwehren. Das Liebes-Traumbild, das ihn schon visionär erfasst hat, löst sich da noch per Video in Asche auf. Über blutige Schuh-Proben gibt es in dieser Fassung sowieso kein Happy End, es müssen nochmal mit fulminanter Schwarm-Choreographie die Tauben als Wegweiser ran, damit der Prinz im Kamin endlich sein Glück findet.
Das auf zwei Akte geraffte Stück, das offenbar erst während der Proben in der Etikettierung von „Tanztheater“ zu „Ballett“ zurückwechselte, ist alles andere als ein Weihnachtsmärchen. Goyo Montero bohrt tief, findet viel und neigt bei der Darstellung zu Überdeutlichkeiten, die Prokofjews schlagkräftige Musik (Dirigent Gábor Káli unterwirft sich und die Staatsphilharmonie mit plakativer Melancholie dem Regie-Konzept und setzt den skurrilen Klangwitz wie grelles Blitzlicht ein) mit Lauschangriffen von Jaulen, Keuchen und Schnattern manchmal etwas aufdringlich ergänzen. Sogar das Quietschen von Papas Rollstuhl, den man zuvor beim womöglich ersten Schlaganfall der Ballettgeschichte dahinsinken sah, wird bedeutungsschwer in die Schallkulisse integriert. Andererseits ist es das passende Vorspiel für eine der schönsten Szenen, die Vater und Tochter zum liebevollen Pas de deux auf Rädern vereinigt.
Eingefasst wird alles durch Verena Hemmerleins Bühnenbau, der auf raffiniert einfache Weise mehrere mobile Rahmen so ineinander staffelt, dass bruchlose Szenenschnitte einschließlich der Traumbilder vom Leben der Anderen jederzeit möglich sind. Lichtwechsel schaffen Stimmungen und wischen sie wieder weg. Die Basis-Atmosphäre bleibt zuckerwattenfrei radikal: So peinigend sadistisch wie Cinderella von Stiefmutter mit Töchtern gequält wurde, so schmerzhaft-blutig enden diese drei Furien im finalen Tauben-Angriff mit ausgestochenen Augen. Die Bewältigung der Vergangenheit, scheint Goyo Montero dem Prinzen und seiner Braut beim Schreiten ins diffuse Licht warnend hinterher zu rufen, wird euch noch lange begleiten. Den mehrfach abgerufenen Aschenregen hatte er immerhin schon zur anthrazitfarbigen Konfettiparade umgewidmet.
In Nürnberg mochte sich mancher Zuschauer daran erinnern, dass Monteros Vorgängerin Daniela Kurz bei ihrem damaligen Amtsantritt recht erfolgreich das Aschenputtel zur artistischen Psycho-Revue in Jeans verwandelte. Auch das war schon ein Gegenentwurf zur Tradition, wenn auch längst nicht so drastisch. Das Premierenpublikum nahm die tiefschwarz unromantische und mindestens gleichwertige Alternative mit ihren choreographischen Kollektiv-Highlights ohne Vorbehalte an. Da das Verbeugungsritual bei Montero immer mindestens so perfekt inszeniert ist wie die Aufführung zuvor, wollte der Jubel gar nicht enden.