Foto: "Die Jüdin von Toledo" vor Mauer im Schauspielhaus Bochum © Jörg Brüggemann / Ostkreuz
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 2. November 2018
Orientierung ist angesagt. Wo Bochum liegt, ist nicht mehr so klar. „Tief im Westen“ meinte noch Herbert Grönemeyer. Johan Simons hat zur Eröffnung seiner Intendanz am Schauspielhaus das Motto „Mitten in der Welt“ ausgegeben. Nicht im Sinne einer zentripetalen nationalen Hybris, sondern als Zeichen einer internationalen Vernetzung. In diesem Sinne warf dann auch der Historiker Philipp Blom in einer politisch eher milden Rede einen kritischen Blick auf Aufklärung, bröckelnde linksliberale Gewissheiten und rechtspopulistische Herausforderungen. Der Schlüssel läge im Akzeptieren einer Vernetzung, die vom Klima bis zum Weltbürgertum reiche. Blom plädierte für mehr Bescheidenheit, wusste aber auch: „Wir sind ein interessanter Primat, der dazu neigt, sich tragisch zu überschätzen“. Darin treffen sich vermutlich Theater und Realität gleichermaßen.
Bescheidenheit allerdings war noch nie eine menschliche Tugend. Weder politisch, noch religiös oder privat. Das gilt für die Gegenwart, aber auch für das 12. Jahrhundert. Lion Feuchtwangers Roman „Die Jüdin von Toledo“, mit dessen Dramatisierung Simons seine Intendanz eröffnete, spielt in der Zeit der Reconquista, also der christlichen Rückeroberung des muslimischen Spaniens. Wandlung und Spaltung, das sind die beiden ersten großen Metaphern, die der Abend aktiviert: Eine weiße, freischwebende Wand (Bühne: Johannes Schütz), die sich gelegentlich dreht, zerteilt die Spielfläche. Grenze und Klagemauer in einem. Unter ihr läuft fortwährend die Drehscheibe als historisches Rad des Lebens, das ständige Bewegung suggeriert. Die Schauspieler arbeiten mit oder gegen Drehung und Wand, unterwerfen sich, indem sie sich flach auf den Boden legen. Halt findet niemand.
Der jüdische Kaufmann Jehuda Ibn Esra (Pierre Bokma) ist ein soignierter älterer Herr im Anzug, durchaus zur Heftigkeit in der Lage, aber immer strategisch denkend: Schutz für die jüdische Glaubensgemeinschaft gibt es nur, wenn Frieden und Wohlstand herrschen. Er ist vom Dienst beim Emir in den des kastilischen Königs Alfonso VIII. übergewechselt, der sich allerdings als soldatischer Ritter, sprich als Gewalt verherrlichender Kriegstreiber versteht. Jehuda soll ihm als Superminister Wirtschaft und Finanzen sanieren und damit neue Schlachten ermöglichen. Ulvin Erkin Teles Alfonso steckt allerdings nicht nur in verniedlichenden Kniehosen, Kniestrümpfen und Bomberjacke (Kostüme: Greta Goiris), sondern ist kaum mehr als ein durchgeknallter Soldatenteenie. Erotik und Autorität der Gewalt, die seine politisch klug kalkulierende Ehefrau Leonor (Anna Drexler) an ihm liebt, gehen ihm völlig ab. Das benennt eine zweite Schwierigkeit: Simons lässt den Abend mit derartigen Hochdruck spielen samt stentorhaften Pressluft-Sprechen, dass die bei Feuchtwanger komplexen Dispute dieses Trios weitgehend auf der Strecke bleiben.
Wie überhaupt die Dramatisierung von Koen Tachelet zwar dem Plot des Romans folgt, ihn weitgehend in Dialoge auflöst, aber allzu viel Figuren-Psychologie preisgibt. Feuchtwangers 1955 erschienener Roman thematisiert nicht nur falsches gewaltverliebtes Heldentum, sondern vor allem die kulturellen Religionskonflikte zwischen einem barbarischen Christentum, einem so zivilisiert wie fanatischen Islam und einem friedliebend-rationalen Judentum. Jehudas Tochter Raquel und Alfonos verlieben sich ineinander und vergnügen sich monatelang auf einem Lustschloss. Bei Feuchtwanger ist Raquel eine neugierige, selbstbewusste, erotisch suchende junge Jüdin, bei Hanna Hilsdorf wird daraus ein quäkend-herumstapfendes Girlie. Ihre Identitätsverwirrung ist mehr Behauptung als szenisches Erleben. So wird daraus eine (christian)boy-meets-(jewish)girl-Geschichte zweier herumtobender Jugendlicher.
Was Simons andererseits gelingt, ist die Verzahnung von Jehudas persönlicher mit der politischen Geschichte. Vehement setzt er sich für bedrohte französische Juden ein, die allerdings von den Christen mit allzu bekannten Flüchtlingsinjurien bedacht werden. Wie ein Basso continuo vergegenwärtigt Simons darin nicht nur Migration, sondern auch einen allgegenwärtigen verbalen Antisemitismus. (Christliche) Friedensethik bleibt schon deshalb eine Illusion. Antisemitismus und Antijudaismus führen unter tätiger Hilfe des hetzenden Erzbischofs Don Martin (Guy Clemens) in den Kreuzzug. Das Ensemble drischt mit Schlagstöcken Stücke aus der weißen Wand heraus. Glaubenskrieg als Niederlegung der trennenden Mauer? Zerstörung der Klagemauer? Die Styroporschollen schichten sich zu einem Eismeer auf, in das die Figuren eintauchen. Angestachelt von Leonors divenhafter Mutter Ellinor (Jele Brückner), einer Madame La Guerre, rammeln sich die Männer schließlich kriegslüstern bis zur Erschöpfung. Triebabführmittel Religionskrieg? Na denn. Alfonsos krachende Niederlage nutzt seine Ehefrau, um populistisch die Schuld auf Jehuda und seinen Tochter Raquel zu lenken und so die Nebenbuhlerin zu beseitigen. Ein Pogrom sorgt für den Rest. Dafür müssen weitere Styroporplatten dran glauben. Die Spielfläche hebt sich und kippt schließlich den Religions- und Emotionsmüll der Geschichte auf die Vorbühne. Ein Trümmerhaufen der Verluste – in mehrfachem Sinn.