Alessandro Scarlatti, der Vater des unter Klavierfans bekannteren Domenico, zeigt nun, welche Verzweiflung dieses Verhalten bei der ebenfalls gefangenen Familie auslöst. Davon erzählen zum Beispiel die ungewöhnlichen Dissonanzen im Mutter-Tochter-Duett. Eine Oper der Barockzeit muss glücklich enden, doch wenn sich alle Beteiligten plötzlich vertragen und zum Schlusschor anheben, unterbricht Scarlatti plötzlich das Finale. Tochter Emilia kommt nicht mehr mit, sie ist immer noch verstört, hat zu viele seelische Verletzungen davon getragen. Das ist Musiktheater im modernen Sinne, ganz aus der Psychologie der Figuren gedacht. Da ist es ganz logisch und aus der Partitur heraus entwickelt, dass Emilia sich dem lieto fine verweigert, ein Gewehr greift und die ganze an der Rampe singende Gesellschaft niedermäht. Die letzte Zeile singt sie alleine.
Regisseurin Eva-Maria Höckmayr transportiert das Stück behutsam in die Gegenwart und bleibt dabei ganz nahe an der Musik. Alle tragen Anzüge und Abendkleider, am Beginn feiern sie eine Cocktailparty, während sich Attilio langsam aus dem Hintergrund nähert, wie ein Geist. Gespenstisch sind auch viele Bilder im zweiten Teil, wenn Gestalten schemenhaft hinter Fransenvorhängen erscheinen und daran erinnern, dass hier mehr verhandelt wird als der Potenzstau der Potentaten. Bühnenbildnerin Nina von Essen nutzt mit großem Geschick die Möglichkeiten der kleinen Bühne im Schwetzinger Rokoko-Theater. Ein Teil des Raumes lässt sich in die Höhe ziehen, was Parallelaktionen ermöglicht, bei denen oft auch Figuren präsent bleiben, die gerade keine Arien singen.
Auch musikalisch präsentiert sich das Ensemble auf der Höhe zeitgenössischer Barockaufführungen. Man spürt in jedem Ton, dass die Heidelberger Philharmoniker sich im Stil der Zeit inzwischen gut auskennen. Kleine Wackler passieren in einem dreieinhalbstündigen Abend, doch vor allem wird leidenschaftlich und emotional musiziert. Dirigent Rubén Dubrovsky verbindet Lust am Affekt mit großem Atem. Besonders schön gelingen die Rezitative, die zum Teil ungewöhnlich instrumentiert sind und nicht einmal einen Anschein von Routine hören lassen. Neben zwei guten Countertenören (Terry Wey und Antonio Giovannini) überzeugen vor allem Sharleen Joynt als stets selbstmordbereite Gattin Fausta und die junge Annika Sophie Rittlewsky als Tochter Emilia. Wie sie nach lyrisch nuancierten Tönen gegen Ende immer dramatischer und schließlich zum Zentrum der Aufführung wird, ist schauspielerisch wie gesanglich umwerfend. Hye-Sung Na als trotz Demütigung um ihre Liebe kämpfende Prinzessin und der sehr sauber singende Tenor Daniel Johannsen als im Liebesdurcheinander fast versinkende Spartanerführer komplettieren ein fabelhaftes Ensemble. In der neapolitanischen Oper des Barock scheint das Wühlen nach seither ungespielten Stücken großen Gewinn zu versprechen. Es würde zumindest nicht verwundern, wenn von Schwetzingen eine Wiederentdeckung des Musikdramatikers Alessandro Scarlatti ausgehen würde.