Foto: Der Schauspieler Marco Leibnitz und der New Yorker Performer, Sänger und Gitarrist Lord Bishop in "Scham" © Andreas Köhring
Text:Stefan Keim, am 28. Februar 2013
Zu Beginn schreiben alle eine Klassenarbeit. Die Schauspieler sitzen an Schultischen, Fragen tönen vom Band, sie malen, kritzeln, schreiben. Sie beschreiben die Momente, in denen sie sich schämen. Manche tragen lange Unterhosen und weite Hemden, andere Jogginganzüge. Die Darsteller haben sich vor der Klassenarbeit an Spinden auf der anderen Seite der Bühne umgezogen. Dann folgt der in vielen Inszenierungen beliebte Sprechchor zum Thema. Besonders originell ist dieser Einstieg nicht, und dennoch das Beste an einem furchtbaren Theaterabend.
Die Idee ist vielversprechend. Einfach nur „Scham“ heißt das Projekt von Regisseur Albrecht Hirche, Dramaturg Sven Schlötcke und dem Ensemble des Jungen Theaters an der Ruhr. Mit dem Schamgefühl umzugehen, ist eins der wichtigen Probleme beim Erwachsenwerden. Es ist ein Kampf, sich vom Blick der anderen freizumachen und seine eigenen Macken anzunehmen, sie als Teil der Persönlichkeit zu akzeptieren, als das, was einen interessant macht. Das Empfinden von Scham kann aber auch etwas Positives sein, ein Beweis für Feingefühl und die Bereitschaft, sich in eine Gesellschaft einzuordnen. Insofern ein vielschichtiges, tolles Thema für wilde Assoziationen, komödiantische Explosionen und nachdenkliches Innehalten. Die Schauspieler werden durch den Performer und Rockmusiker Lord Bishop verstärkt, einen zwei Meter großen, schweren schwarzen Mann, der sich in die Gruppe integriert und auf Englisch mitspielt. Beste Voraussetzungen also.
Dann folgt ein völliges Versagen von Regie und Dramaturgie. Als running gag gibt es eine mehrteilige Fernsehsoap-Parodie namens „Vatta, Mutta, Kind“. In einem Fantasiebayrisch werfen sich die Schauspieler derbe Beleidigungen und Unterschichtenslang an den Kopf. Handlung der ersten Folge: Einer hat in die Badewanne geschissen, und es stinkt. So geht es weiter. Vielleicht wollten Hirche und Schlötcke das mentalitätsbildende Unterschichtenfernsehen persiflieren, wie es Alfred Jarry mit Shakespeares Tragödien tat. Doch „Macbeth“ hat eine andere Fallhöhe als „Verbotene Liebe“. So entsteht nur potenzierte Blödheit, die durch mehrmalige Wiederholung zermürbend wirkt.
Manchmal gehen die Schauspieler ganz nah an die erste Reihe heran, überschreiten Schamgrenzen. Lord Bishop saß mir gegen Ende der Premiere sogar auf dem Knie. Doch mit dem Thema setzen sie sich überhaupt nicht auseinander. Nie wird es schmerzhaft oder gar existentiell, alles ist Rumspielerei und Albernheit. Lord Bishop singt nur ganz gelegentlich, fast wie eine Pflichtübung, wo er schon mal da ist. Gelegentlich ist zu spüren, dass gute Schauspieler auf der Bühne stehen, die blitzschnelle Rollenwechsel beherrschen und plötzlich Zwischentöne erahnen lassen. Aber sie haben nur überdrehten Mist zu spielen.
Ganz am Ende dann plötzlich eine Botschaft. Anjorka Strechel, die jüngste, ist allein im Klassenzimmer zurück geblieben und sagt, nun wolle sie lernen, dem Blick der anderen standzuhalten. Ganz pädagogisch klingt das, wie zum Mitschreiben. Oder ist das auch wieder ein Witz? Es ist wunderbar, dass die Theater Jugendproduktionen als künstlerisch-sinnliche Ereignisse begreifen und nicht den Nutzwert in den Vordergrund stellen. Doch so eitel, selbstverliebt und dämlich wie diese Aufführung dürfen sie nicht werden. In Mülheim sollte es um die Scham gehen, doch der Abend ist nur peinlich.