Foto: "Der Kaufmann von Venedig" an den Münchner Kammerspielen © David Baltzer / Bildbühne
Text:Anne Fritsch, am 10. Oktober 2015
Kann man dieses Stück überhaupt inszenieren? Dieses Stück, in dem ein Jude einem Christen einen Kredit gewährt und als Pfand nicht weniger als ein Pfund dessen Fleisches verlangt? Dieses Stück um Geld, Schuld, Rache und Gerechtigkeit, das William Shakespeare eine „Komödie“ nannte und an dem doch so gar nichts lustig ist? Dieses Stück, in dem alles Dilemma darin begründet liegt, dass es die Liebe nicht umsonst gibt? Dass schon eine Chance auf die Heirat 3000 Dukaten kostet?
Ja, kann man. Oder besser: Nicolas Stemann kann. Er inszeniert Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“ als Eröffnungspremiere der Intendanz Matthias Lilienthals an den Münchner Kammerspielen. Und er tut es furios, findet spielerisch das Gleichgewicht zwischen Auflösung der Textstruktur und einer erstaunlichen Nähe zum Original (in der Übersetzung von Elisabeth Plessen).
Die Bühne von Katrin Nottrodt ist leer bis auf ein paar Tische mit Laptops. Boden und Wände sind mit silberner Folie ausgekleidet, von der Decke hängen vier Bildschirme. Hier geht es um den Text, um seine Aufführungsgeschichte, um seine Relevanz damals und heute. Über weite Strecken lässt Stemann den Originaltext auf den Bildschirmen mitlaufen. Hier – und hier allein – sind die Rollen klar verteilt, während auf der Bühne Thomas Schmauser den ersten Akt beinahe im Alleingang spielt, grandios hin- und herspringt zwischen Bassanio, der Geld braucht für eine Chance bei der schönen Portia, und Antonio, der das Geld nicht hat, es seinem Freund aber gerne leihen möchte und sich so auf den gefährlichen Handel mit Shylock einlässt. Jelena Kuljic singt dazu: eigen, schrill, eindringlich.
Stemann, Jelinek-Spezialist, behandelt seinen Shakespeare wie eine postdramatische Textfläche. Und siehe da, es bekommt ihm gut. Alte Rollenzuschreibungen und Vorurteile werden obsolet, hier ist jeder zu allem fähig. Zwischendurch taucht immer wieder Hassan Akkouch im Geschehen auf, hält eindringliche Reden in einer fremden Sprache, die niemand versteht, die aber wie arabisch klingt. Wie er es aber sagt, mit seiner sanften Stimme, ruhig, besonnen, weckt Vertrauen. Dennoch fährt, als er wieder geht, ein kleiner ferngesteuerter Panzer über die Bühne. Stemann spielt mit kollektiven Ängsten, Verunsicherungen und Irritationen, befreit den Text von der Figur und stellt ihn in den Raum, wo er mit neuen Augen betrachtet werden kann. Die Mechanismen von Demütigung und Rache, die dem Stück innewohnen, werden losgelöst von antisemitischen oder rassistischen Ressentiments. Hier geht es weniger um den Juden als um den Menschen an sich. Ob er nun Christ, Moslem, Jude, Mann, Frau oder homosexuell ist. Den berühmten Monolog Shylocks spricht hier jeder: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns Unrecht zufügt, sollen wir uns nicht rächen?“
Es gibt Szenen, bei denen einem das Lachen im Halse stecken bleibt, wie wenn Niels Bormann „als Jude verkleidet einen Nazi spielt“, Charlie-Hebdo-Hefte verteilt und dann alle niederballert, während er darauf beharrt, eine Komödie zu spielen. Szenen von berührender Verletzlichkeit, wie wenn Hassan Akkouch sich als Shylocks Tochter Jessica verkleidet, ein verwundbares androgynes Wesen. Und Szenen von überdrehter Leichtigkeit, wie wenn Thomas Schmauser und Julia Riedler als Bassanio und Portia einen wilden Liebeskampftanz zu „Eye of the Tiger“ tanzen. Da ist alles Liebe ohne Leiden – und kein Gedanke mehr an den, für den alles Leiden ohne Liebe geworden ist: Walter Hess ist jetzt Antonio, der weiß, dass Shylock ihm ein Pfund Fleisch aus dem Leibe schneiden wird, die Messer sind bereits gewetzt. Und dann gelingt Stemann nochmal eine Szene politischen Theaters, ein Bild der Mechanismen von Ausgrenzung und Diskriminierung. Wie die Masse auf einmal zusammenrückt gegen Shylock, gegen den gemeinsamen Feind, das ist bedrohlich. Gnadenlos, wo doch gerade noch alle die Gnade beschworen haben.