Foto: Totale der Stationenbühne von Markus Selg für „Einstein on the Beach“ © Ingo Höhn
Text:Andreas Falentin, am 7. Juni 2022
Knapp vier Stunden Musiktheater ohne Pause, dafür keine Handlung im engeren Sinne. Bei diesen Ausgangsbedingungen ist klar, dass Aufführungen von „Einstein on the Beach“ immer Wagnisse sind. Die oft zu Ereignissen werden wie zuletzt 2017 in Dortmund und 2019 in Genf.
Susanne Kennedy und Markus Selg, die das Konzept für die Basler Inszenierung gemeinsam entwickelt haben, gehen nun noch einen Schritt weiter als ihre Vorgänger. Auch sie erfinden eine ganz eigene originäre Bildwelt. Aber sie überhöhen, respektive brechen sie nicht durch Konfrontation mit europäischem Kultur- und Gedankengut in gesprochener Form (wie Kay Voges in Dortmund) oder einer fast magischen Rhythmisierung und Dynamisierung der Bilder (wie Daniel Finzi Pasca in Genf). Selg und Kennedy haben eine Installation geschaffen, die das alte Spannungsverhältnis Zivilisation und Natur zum Thema hat.
„Die archaische Theatermaschine, in den digitalen Raum erweitert, gibt den unterschiedlichsten Akteur*innen, menschlichen, nicht menschlichen, biologischen und synthetischen Intelligenzen die Möglichkeit, gemeinsam zu spielen“, schrieb Markus Selg im Mai-Heft 2021 der DEUTSCHEN BÜHNE für unsere Reihe „Theater der Zukunft“. Und er zitiert diese Passage nicht umsonst im Programmheft, geht es doch in der Aufführung auf etlichen Ebenen genau darum. Gemeinsames Spiel. Gemeinschaft.
Die Drehbühne ist mit Stationen bestückt. Ein stilisierter Schrein, in dem eine Gottheit in Form eines Tierschädels verehrt wird; eine einfache Stufenkaskade; eine Höhle in einem Felsen, davor eine Feuerstelle und zwei karge Bäumchen; ein gewaltiges, aufrechtstehendes, an einer Stelle geborstenes Rad (eine Säulenbasis, eine Roulette-Schale, ein Kompass?), durch das eine Treppe hindurchführt. Dazu Projektionsflächen, Screens, Lichtquellen. Eine atavistische Gesellschaft? Nein, eher eine postapokalyptische, denn Technik scheint überlebt zu haben. Das Wasser – für die Menschen, die Gewächse und die zwei lustigen, leibhaftig mitspielenden Ziegen – kommt aus dem Plastikkanister
Fraktale und Rituale
In einer rechteckigen Mulde auf der Vorbühne: das Ensemble Phoenix Basel. Der Boden darum herum und auf der Drehbühne ist mit bemalten Teppichen belegt, die Markus Selg mit Fraktalen bemalt hat, mit sich in gebrochener, also unsymmetrischer Weise reproduzierenden Formen in Natur und Theorie. Auch die vielen Projektionen (Bäume, Wolken, Birkenstämme, aber auch Blicke auf Architektur) bedienen dieses Modell. Aus Wiederholungen entsteht Neues, ein Spiegel der Kompositionsmethode.
In diesem Setting agieren vier Sängerinnen und die zwölf Solist:innen der Basler Madrigalisten. Ihre Haartrachten, die Farben und Schnitte der Kostüme von Teresa Vergho, lassen an indigene Völker denken. Dazu kommt die großartige Violonistin Diamanda Dramm, Einstein so unähnlich wie irgend möglich, und sechs Performer:innen. Sie sprechen die Texte aus der Partitur, deuten Gemeinschaftsrituale an, überhöhen sie gestisch, spielen sie gelegentlich auch aus und deuten Tänze an.
Der Clou: Die ganze Bühne, auch die Drehbühne, ist für das Publikum begehbar. Man kann im Publikum sitzen, am Rand der Bühne auf Stühlen, aber auch im engeren Sinne auf der Bühne Platz nehmen, auf Felsbrocken oder Sitzkissen. Oder man kauert sich auf den Boden. Dann sieht, erlebt man zwar immer nur einen Ausschnitt, aber eben einen ganz eigenen. Und man wird tatsächlich Teil von etwas. Natürlich ist auch der Zuschauer im Publikum immer Teil einer Aufführung – aber er spürt es nicht immer. Im Basler „Einstein“ steckst Du, wenn Du dich auf die Bühne begibst und dort, bei gelegentlichen Positionswechseln, ausharrst, so sehr drin, dass Du unwillkürlich auch mal auf die Monitore mit dem Dirigenten schaust, als gäbe es da Informationen für Dich. Dazu verschwimmen die Ebenen: Die junge Frau, die da ihr Baby stillt, gehört die dazu? Oder der junge Mann, der da über die Bühne gockelt, stolz auf sein schickes Hemd? Oder die beiden vielleicht zehnjährigen Jungs, die jetzt seit einer Stunde direkt vor der Drehbühne sitzen, das Kinn auf die Hand gestützt?
Gemeinschaft durch organischen Fluss
Es entsteht also, mit nahezu sämtlichen analogen und digitalen Theatermitteln, auf der Bühne so etwas wie eine wirkliche Gemeinschaft. Was nur geschehen kann, weil die Musik auf höchstem Niveau organisch fließt. Und das organisiert der Dirigent André de Ridder auf fast erschreckend subtile Weise (by the way: Ein Hoch auf die Sounddesigner Richard Alexander und Andi Toma sowie den Klangregisseur Robert Hermann). Nie wird es laut. Die vielen kleinen rhythmischen, Klangfarben-, Tempowechsel, aus denen die schier endlose Klangschleife (oder -schlange) entsteht, ereignen sich so faszinierend selbstverständlich, dass man sie kaum nachvollziehen kann. Man muss sich ihnen überlassen. Kann man mehr erwarten vom Musiktheater?
Zum Schluss: Großer, wilder Jubel im gut und sehr heterogen besetzten Publikum.