Foto: "Das Erdbeben von Chili" am Residenztheater © Sandra Then
Text:Anne Fritsch, am 26. September 2020
Da liegen sie im Staub. Über die leere Bühne zieht Nebel. Nach dem dröhnenden Lärm zuvor ist es nun vollkommen still. Eine postapokalyptische Szene. Langsam regt sich eine, steht auf, sieht sich ungläubig um. Die Scheibe, auf der sie alle sich befinden und die vielleicht die Erdscheibe ist, dreht sich langsam, wie in Zeitlupe. Als wäre die ganze Welt zum Stillstand gekommen. Hier, inmitten der Zerstörung, finden sich zwei wieder, die sich lieben (und nicht lieben dürfen). „Wieviel Elend über die Welt kommen musste, damit sie glücklich würden“, heißt es im Text. Ulrich Rasche hat zur Spielzeiteröffnung am Münchner Residenztheater „Das Erdbeben in Chili“ nach Heinrich von Kleist inszeniert. Und er spart weder an Wucht noch an Pathos. So opulent, so groß besetzt war Theater lange nicht. Nach dem Beben, das St. Jago zerstört hat, lässt Rasche drei riesige Leuchtkästen herunterfahren. Wie ein Sonnen- oder Hoffnungsaufgang. Die Menschen auf der Bühne stehen wie Schatten im grellen Licht. Ein bisschen Phoenix aus der Asche. Doch die Harmonie ist nicht mehr als eine Illusion.
Die Bühne: eine riesige Drehscheibe diesmal, auf der die Spieler*innen wie immer bei Rasche gehen, ohne vom Fleck zu kommen, auf der Stelle treten. Mareike Beykirch, Lind Blümchen, Pia Händler, Barbara Horvath, Thomas Lettow, Nicola Mastroberardino, Antonia Münchow, Johannes Nussbaum und Noah Saavedra gehen den Rasche-Gang, die Beine immer leicht gebeugt, die Arme angespannt neben dem Körper mitschwingend. Bei jedem Schritt verbiegen sie sich unnatürlich. Manchmal wirken sie wie eine Zombie-Armee. Den Blick fast immer ins Publikum gerichtet oder eher über das Publikum hinweg in eine Ferne, in der sich die geschilderten Ereignisse abzuspielen scheinen, sprechen sie den Kleist-Text. Mal im Chor, mal alleine, mal schreien sie, mal flüstern sie beinahe. Sie machen die Kraft dieser Worte hörbar, dieser Texte, die eigentlich nicht dafür gemacht scheinen, leise gelesen zu werden. Selten nur wenden sie den Blick einander zu, Dialoge gibt es im Grunde nicht, das alles ist ein großer Bericht. Eine Art Rechenschaft vielleicht sogar, die sie ablegen.
Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ hat eine Kraft, der man sich schwerlich entziehen kann: Da ist das junge Paar, das kein Paar sein darf, weil er ihr Lehrer war. Sie wurde zum Tode verurteilt, weil sie sein Kind gebahr. Er ins Gefängnis gesteckt. Und just als sie zur Hinrichtung geführt wurde und er sich aus Verzweiflung erhängen wollte, wurde die Stadt von einem Erdbeben erschüttert, das alles im Chaos hinterlässt – und den beiden die unerhoffte Freiheit schenkt. Da stehen sie nun in der allgemeinen Not und Verzweiflung, in der so viele alles verloren haben, und finden sich wieder. In einem Tal, in der Natur begegnen sie sich unter einem Granatapfelbaum wieder und können sich eine kurze Zeit der paradiesischen Illusion hingeben, alles werde gut. Doch der Mensch ist ein Mensch und will Erklärungen für das Unerklärliche, einen Schuldigen für die Katastrophe. Und wer bietet sich da besser an als diese beiden, die durch ihre Sünde den Zorn Gottes erregt haben. Zurück in der Zivilisation wartet der wütende Mob auf sie. Und der kennt keine Gnade.
Wie dicht diese 15 Seiten von Kleist sind, wird deutlich, wenn Rasche sie sprachlich in Szene setzt. Er bleibt beim Original, folgt ihm beinahe wörtlich, verteilt den Text auf sein Ensemble, inszeniert die Sprache. Er arbeitet den Rhythmus und Sound der Vorlage heraus, ihre Bildkraft. Vor Pathos hat er keine Angst, auch nicht vor großen Effekten: Das Erdbeben wird von dröhnendem Schlagzeug und Nebel begleitet, danach folgt die Ruhe, die beinahe noch bedrohlicher wirkt.
Erst gegen Ende fügt er den einen oder anderen Text ein, bezieht die Katastrophe Erdbeben direkt auf die Katastrophe Covid-19. „Wir schaffen Lebensräume, in denen Viren leichter übertragen werden, und dann sind wir überrascht, dass wir neue haben“, lässt er den Priester predigen. Und: „Es sind Menschen hier, die das Virus hatten und viele infiziert haben.“ Das ist nicht nur unnötig, es nimmt der Inszenierung von ihrer Kraft, die eben darin lag, im Kleistschen Text die Zeitlosigkeit zu erkennen, die Parallelen zum Jetzt. Kleist zeigt ja die gefährliche Suche nach einem Schuldigen, wo es keinen gibt; den wütenden Mob, der vor Gewalt nicht zurückschreckt und sich selbst zum Maß aller Dinge erhebt im Urteil über andere. Kleist erzählt vom Leben als einem fragilen Ding, in dem sich alles schnell ändern kann, in dem Leid und Glück parallel existieren. Das alles macht diese Erzählung schon sehr aktuell. Auch wenn die heutige Naturgewalt leiser ist.