Foto: Szene mit Chor und Nicolai Karnolsky © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 18. Januar 2016
Noch ehe das Orchester Platz genommen hat und der Vorhang sich hebt, scheint diese für Nizza und Nürnberg gemeinsam produzierte Inszenierung von Fromental Halévys Grand opéra „La Juive – Die Jüdin“ ihr Statement abzugeben. Dicht an der Bühnenrampe ist da eine improvisierte Opfer-Gedenkstätte aus Blumen und Lichtern aufgebaut, wie man sie nach Terroranschlägen so schrecklich oft sieht, und die Titelheldin wird noch vor dem ersten Ton eine Kerze entzünden. Solidarität, aber mit wem? Der Zuschauer ahnt Zusammenhänge, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht, welch verwirrendes Gefühlsleben sie mit sich schleppt, auch wenn es schnell zur Sache, dem Antisemitismus als Beispiel von Volksverhetzung, gehen wird. Das Volk, das mehr lebende Reflex-Kulisse als Masse Mensch für die Auseinandersetzungen abbildet, signalisiert per Kostüm die geänderte Zeit. Was im Original beim Konstanzer Konzil um 1414 spielt, ist hier in die 1930er-Jahre verlegt. Und genau dort hatte John Dew, als er wie ein Comeback-Pionier ab 1978 in mehreren Stationen diesen vergessenen Bestseller des 19. Jahrhunderets immer wieder und 1993 beim zweiten Versuch eben in Nürnberg auflegte, seine herausfordernde Interpretation ebenfalls angesiedelt. Hier ergibt sich eine Parallele – und schwupps, schon ist sie vorbei.
Regisseurin Gabriele Rech dekorierte für ihre Version nur um, sie will von der damaligen gesellschaftskritischen Sicht des jungen Bielefelder Opern-Revoluzzers, der die haarsträubend konstruierte Story an ihrem harten Kern packte und auf der Wucht der Musik durch die Endlosschleife der Zeitgeschichte wirbelte, nur die für Theatralik verwertbare Bedrohung haben. Nein, natürlich keine Nazi-Schergen als Repräsentanten des amtlichen Antisemitismus, das hat sich als erkenntnisstiftendes Reizmittel ja wirklich verbraucht. Dafür nun wieder ungelenk salutierende Opern-Soldaten, die zwar mal am Kirchenportal nach Sprengstoff suchen, aber wohl doch direkt aus dem „Carmen“-Polizeirevier abkommandiert sind. Immerhin tauschen die (noch nicht als christlich enttarnte) Pflege-Tochter des jüdischen Goldschmieds und ihr (eigentlich reichsfürstlicher) Verehrer, das unheimliche Liebespaar unter religiös verbrämter Mischehen-Todesdrohung, schnell mal handgeschriebene Zettel mit gegenseitigen „Je suis…“-Bekenntnissen zu Juive und Chrétien, Jude und Christ. Aber selbst das herbeizitierte Echo von Charlie Hebdo klingt hier privat, denn die ganze Inszenierung zielt aufs Scheitern des gewundenen kleinen Glücks im Sog des irgendwie großen Unheils. Schließlich wartet ja auch noch des Kaisers Nichte bei Champagner und Migräne auf den Doppel-Bräutigam.
Bühnenbildner Dieter Richter baute die Szenen als Fassaden-Sortiment. Der mächtige Dom (mit praktischer Chor-Tribüne vor der Tür) hat den gleichen Grundriss wie das niedergebrannte Heim des Juden und später die Folterkammer. Während im Palast der Luxus durch lichte Vorhänge weht, gruppiert sich beim Pessachfest die jüdische Gemeinde am langen Tisch wie zwölf Apostel um Eléazar. Er ist der gnadenlos fromme Mann, der über den Zorn seines Gottes, den er mit Gebetsschal zur Rache aufruft, genau so manipulativ verfügen will wie es an anderer Stelle der Kardinal mit kombiniertem Todes- und Gnadenbefehl auch tut. Dazu könnte der Opernregie einiges einfallen. Aber Gabriele Rech hält Assoziationen auf kleinster Flamme. Sie zeigt Eléazar (Luca Lombardo singt die schwierige Partie souverän, bleibt als Charakter aber blass) wie eine entfernte Shylock-Ahnung, die den geistlichen Konzilspräsidenten und wirklichen Vater der „Jüdin“ (Nicolai Karnolsky spaziert auf Dauer-Audienz durch die Turbulenzen) in lebenslange Qual stürzen will. Am Ende hat niemand etwas gelernt. Die Tochter ist aus Prinzip hingerichtet, die beiden liebenden „Väter“ stürzen, während der Vorhang fällt, aufeinander in ihre letzte Rauferei.
Gerauft wird auch vorher, es kündigt sich immer dadurch an, dass die Herren ihr Sakko ablegen. Der Höhepunkt von Pogromstimmung passiert am kalten Büffet, wo die bessere Gesellschaft als Ausdruck größten Unmuts mit Plastiktellern wirft. Titelheldin Rachel, von Leah Gordon mit etwas Mühe und viel technischem Können in die explosive Dramatik gestemmt, ist das Kraftwerk schroff wechselnder Emotionen. Uwe Stickert als Reichsfürst, der sich in Liebe und Konvention verstrickt und dem Stück plötzlich abhanden kommt, singt die anspruchsvollen tenoralen Schnörkel weitaus subtiler als er die Schablonen-Figur spielt. Die mondäne Prinzessin von Banu Böke, auch stimmlich an Grenzen, ist geradezu ein Modell für konventionelle Posen-Regie.
Dirigent Guido Johannes Rumstadt, in den letzten Jahren der Nürnberger Fachmann für die Grand opéra, geht vorsichtig, manchmal geradezu akademisch um mit den Effekten, aus denen Fromental Halévy seine Oper baute. Er tüftelt und setzt Akzente wie mit der Pinzette, lässt den Sängern viel Entfaltungsmöglichkeit. Die Fassung, nach der Produktions-Premiere in Nizza für Nürnberg noch einmal geändert, ist auf die Spieldauer von zweimal 80 Minuten gekürzt, kann aber trotz dieser Konzentration den Eindruck einer Nummern-Girlande nicht aufheben. Rumstadt gelingt es, die Vielfalt der Kompositionsteile vorzuführen, aber für den kulminierenden Eindruck eines ins Ungeheuerliche horchenden Klangs fehlt ihm einfach der Druck einer weniger illustrierenden als interpretierenden Inszenierung.
Nach Peter Konwitschnys Inszenierung in Mannheim und vor Calixto Bieitos Zugriff bei den Münchner Opernfestspielen 2016 hätte man Gabriele Rech in Nürnberg eine kraftvolle Alternative im aktuellen Comeback-Tableau zugetraut. Leider hat sie die Herausforderung nicht angenommen.