Foto: „Mädchenschule“ am Theater Gießen © Lena Bils
Text:Michael Laages, am 6. März 2023
Warum schreibt eigentlich hierzulande niemand so einen Text für’s Theater – so handfest und so alpträumerisch zugleich, so fundamental interessiert an Geschichte und sich ihrer bewusst auf der einen Seite und auf der anderen vollkommen gegenwärtig; politisch sehr direkt, aber eben auch hoch poetisch, alles im selben Atemzug ? Entsteht Theater dieser Art womöglich nur in Regionen der Welt, in denen Repression und Gewalt durch die Staatsmacht auch in einem formal demokratischen System so massiv präsent sind wie in diesem Fall in Chile? Zuletzt hatte die Szene vor Ort zum Beispiel das Lateinamerika-Festival Adelante in Heidelberg mit einem atemberaubend kämpferischen Stück überrascht, in dem ein Dutzend junger Mädchen von den Zwängen und der Gewalt berichteten, die Normalität und Freiheit unmöglich machen im eigenen Leben, öffentlich wie privat … Jetzt zeigt das Stadttheater in Gießen mit „Mädchenschule“, dem Stück der chilenischen Schauspielerin und Autorin Nona Fernandez, eine furiose Theater-Phantasie, die alles „aktivistische“ Schreiben hierzulande umstandslos in den Schatten stellt.
Fantasie und Vergangenheit
Ganz einfach sieht’s aus – und vermisst doch staunenswert die Horizonte zwischen Wirklichkeit und Traum. Der Physiklehrer einer Schule hat sich ins eigene Schul-Labor zurückgezogen, um (wie er sagt) Prüfungsarbeiten zu korrigieren. Im Keller hört er es rumoren – drei Schülerinnen klettern herauf aus dem Untergrund des „Liceo das Ninas“, der Mädchenschule. Und sie fesseln ihn prompt – denn sie haben sich nach der Besetzung der Schule (und nach dem brutalen Eingreifen von Polizei und Militär) in der Schule versteckt. Seit fünf Monaten, behaupten sie selber; sie hatten ein Theaterstück für die Abschlussfeier des Jahres einstudiert und müssen nun feststellen, dass diese Feier morgen schon stattfindet, die Sporthalle ist schon dekoriert. Tatsächlich ist es alles viel komplizierter: Die Schul-Besetzung fand vor 30 Jahren statt! Der Anführer von damals (den die durchaus schon etwas reifer wirkenden Mädchen von damals noch immer verehren) wurde auf der Flucht ermordet. Nach den gültigen Regeln der Schul-Physik von Zeit und Raum passt überhaupt nichts zusammen auf dieser sonderbaren „Zeitreise“ der Mädchen. Wie zum Beispiel haben die Mädchen drei Jahrzehnte im Keller überlebt? Findet die ganze Geschichte womöglich nur in der Fantasie des Lehrers statt? Immer wieder wird er angerufen: von der Schulleiterin, von der eigenen Frau, später noch von einem Kollegen, den alle als „Verräter“ identifizieren. Immer deutlicher wird, dass dieser Lehrer tatsächlich ein Problem haben könnte: Panik-Attacken aus Angst um den Job hat er seit langem mit Psychopharmaka behandelt, und die hat er gerade abgesetzt … sind die revoltierenden Mädchen aus dem Jahr 1985 womöglich nur in seinem Kopf gegenwärtig? Will er sich nur an den Fall von damals erinnern?
Die Wendungen der Dramaturgie im Stück von Fernandez sind zum Staunen: So haben die Mädchen wie der Anführer von damals die Namen von Sternen angenommen; der charismatische Anführer etwa wird „Alpha Centauri“ genannt. Mit Sternen kennt der Lehrer sich aus – und in der schönsten Szene des Abends in Gießen scheinen tatsächlich ferne Sterne durch den Raum zu schweben – Video-Projektionen auf einem Gaze-Vorhang machen’s möglich. Die Bühne von Hilke Fomferra (zunächst eine schräge Platte auf der Drehbühne) hat sich zum Weltraum gewandelt; und offenbar verlässt die kleine Widerstandsgruppe gerade die Wirklichkeit, ohne allerdings in einem besseren Heute und Hier anzukommen.
Veredelung eines starken Stückes
So zünden die politischen Sprengsätze langsam und sorgsam dosiert. Das Mädchen, das die Stimme infolge der grausamen Behandlung bei der Polizei verloren hatte und seither nur schreiben konnte (auf der Bühne tanzt sie, und die Texte erscheinen auf der schwarzen Rückwand der Bühne!), spricht nun wieder und erzählt von damals; und in einer alptraumhaft verfremdeten Szene zum Schluss stirbt „Alpha Centauri“ auf der Flucht. Die Familie, die ihn aufnahm, Vater, Mutter und zwei Kinder mit knallbunten Schwellköpfen wie im leicht verspäteten Karneval, verrät ihn an die Staatsgewalt. Und per Live-Musik meldet sich auch die legendäre Widerstands-Hymne des ermordeten Chansonniers Victor Jara: „El derecho de vivir em paz“. Sie erzählt vom Recht, in Frieden zu leben; immer wieder stimmten die alten Helden der chilenischen Musik, die Gruppe Inti Illimani etwa, dieses Lied auch in den jüngsten Protesten an, jeder Chilene und jede Chilenin singt es mit.
In Gießen hat Anais Durand-Mauptit das Stück inszeniert; sie wuchs in Paris auf und hat auch dort studiert, grenzüberschreitend arbeitet sie sowohl in der „Freien Szene“ als auch im Stadt- und Staatstheater, in Bonn etwa oder Karlsruhe. Für das kleine Stadttheater in Gießen hat sie in der ersten Spielzeit der neuen Intendantin Simone Sterr das feine Stück von Nona Fernandez in eine Art fantastisch-realen Alptraum verwandelt. Schritt für Schritt nur enttarnt sie mit der Autorin den Traum vom historischen Widerstand, den der Lehrer offenbar nie aus dem Kopf verbannen konnte, als Kern der Fabel im Stück; und immer deutlicher wird auch, dass es sich um reale Vorfälle gehandelt haben mag, die Nona Fernandez als Erinnerungsarbeit im Stück verwendet. Zwölf Jahre nach dem von den USA befeuerten Militär-Putsch von 1973 wurde die „Mädchenschule“ ja tatsächlich besetzt, und tatsächlich starb danach auf der Flucht der Anführer, in Wirklichkeit sogar mit dem Bruder.
Alles wahr, alles noch einmal erfunden – und das ganze Stück, 2015 geschrieben, wirkt so gegenwärtig, weil es gerade in jüngerer und jüngster Zeit wieder so viel Aufruhr und Widerstand in Chile gab, zuletzt um die neue Verfassung. Als vor Jahren die Mädchen aus Chile zum Adelante-Festival nach Heidelberg kamen, war gerade eine Geste zum wiedererkennbaren Sinnbild des Widerstands geworden – die Mädchen hielten sich eine Hand vor ein Auge. Sie erinnerten so daran, dass unzählige Demonstrierende zu der Zeit durch Gummi-Geschosse der Staatsmacht ein Auge verloren hatten. „Mädchenschule“ von Nona Fernandez stammt aus diesen Jahren – und erinnert wie die Geste von damals. Anais Durand-Mauptit veredelt das ohnehin schon sehr starke Stück in Gießen mit prachtvollem Ensemble zu einem kleinen Ereignis – auch weil zu spüren ist, dass politisch motiviertes Theater eben auch so sein kann: sinnlich, fantastisch, poetisch; als alter, aber immer wieder neuer Traum vom Widerstand.