Foto: Ensembleszene © Nilz Böhme
Text:Roland H. Dippel, am 7. April 2017
„Le Corsaire“, ein Piraten-Ballett in drei Akten von Gonzalo Galguera in Magdeburg – ein Klassiker mit den wohl spannendsten Männer-Parts des romantischen Balletts.
Natürlich könnte man über das ohne die verlorene Urversion erhaltene Stückwerk von Adolphe Adams „Le corsaire“ den Stab brechen und es in die Mottenkiste für unverbesserliche Ballettomanen entsorgen. Aber gerade das wäre schmerzlich falsch. Denn neben Paradenummern wie dem erst 1916 ergänzten großen Pas de trois oder dem „jardin animé“, dem himmlisch langen Frauen-Divertissement im üppigen Harem des Sultans, enthält der zum Glück immer wieder von großen Kompanien hervorgeholte Klassiker die wohl spannendsten Männer-Parts des romantischen Balletts. Das sind keine Melancholiker oder Unglücksraben wie am „Schwanensee“, sondern vitale Energiebündel auf Freibeuterkurs. Allerdings nur zwei Akte lang, dann übernehmen wieder die Frauen das Zepter.
Gonzalo Galguara mag keine halben Sachen und so wird seine Adaption auf Maria Babaninas musikalische Rekonstruktion für das Bayerische Staatsballett zum strahlenden Höhepunkt seiner Magdeburger Dekade. Mit Leidenschaft hat er seiner kräftigen und persönlichkeitsstarken Kompanie eine Choreographie implantiert, in der Naivität, Ironie und Emphase miteinander verschmelzen. So stark ist diese Ensembleleistung, dass der Schlussbeifall einmal fast erstirbt. Nicht aus Ablehnung, sondern nach viel Szenenapplaus für die „Pièces de bataille“, aus echter herzlicher Begeisterung.
Dabei ist gerade in den ersten Szenen auf dem Sklavenmarkt noch nicht alles auf Höhe der prachtvollen Ausstattung. Einige Präzisionstrübungen sollten als Tribut an die Überenergie und Nervosität zur Premiere durchgehen. Spätestens mit der Präsentation der widerwilligen Medora und der willfährigen Gulnara vor dem Sultan kommt alles ins rechte Lot. Lou Beyne als führende Dame des Abends gestaltet ihre schwierigen Figuren mit Bravour und hat dazu das feine Gran Herbheit, dass man ihr die Hingabe als Korsarenbraut glaubt. Narissa Course ist die ebenbürtige Gefährtin. Mit ihnen und allen Odalisken, Aufseherinnen, Kinderballett tanzen bis zu dreißig verführerische Frauen, eine Riesenzahl also. Klar, dass es als Aufseher in diesem Ambiente nur attraktive Haremsdiener und Eunuchen geben kann.
Darko Petrovic gewährt hier alle Opulenz, deren es hier für Vollmond, Schatztruhe und Divan bedarf: Eine von den griechischen Korsaren erstürmte orientalische Stadt, eine nachtblaue Grotte mit Meerblick und einem Dach, das sich weitet wie der Gralstempel und schließlich ein Harem mit sich illusionistisch Richtung Zuschauerraum dehnenden Rundbögen, ein Traum in Rosa. Josef Jelineks Kostüme entfalten dazu alle Reize eines genretypischen Exotismus.
Schon in der Uraufführung blieb von Byrons Versepos „The corsair“ nicht allzu viel übrig, heute betrachtet muss das kein Schaden sein. Denn die erste Primaballerina will hier den Korsar Konrad und die zweite will den Sultan, den sie bei Byron umbringen muss. Da ist das schauprächtige Ballett aus heutiger Perspektive wesentlich korrekter als die Vorlage mit ihrer Schwarzweißmalerei zwischen Orient und Okzident.
Gonzalo Galguera belässt alles im Mittelmeerraum. Er macht aus den Ensembleszene der Männer, deren vielen Spagaten und Sprüngen mit bzw. ohne Säbel keine „Fluch-der-Karibik“-Show und vertraut dem überlieferten Plot. Neben den Tänzen erfindet er unter kräftiger Interaktion mit der Theaterballettschule Magdeburg und der Statisterie zahlreiche stilgerechte Pantomimen und liebevoll gezeichnete Details.
Schon allein weil es drei männliche Hauptrollen gibt, ist die zu seltene Entscheidung klassischer Kompanien für „Le corsaire“ rätselhaft. Die Paradenummer mit den vielen „grands jetés“ tanzt in der überlieferten Zuordnung nicht die Titelfigur Konrad, sondern der Sklave und Helfer Ali. Für beide und den am Ende abgestochenen Freundesverräter Birbanto hat Galguera aus dem eigenem Ensemble gestandene und begeisternde Besetzungen. Raúl Pita Caballeros Ali ist das überragende Kraftpaket, der auch im Hintergrund das Geschehen von Anfang an beherrscht. Adrian Román Ventura hat eine enorme Vitalität und vielleicht sogar noch etwas mehr von jener federnden Tanzenergie, die seinen und Medoras lyrisch versponnenen Pas-de-deux vor dem Brautbett zum Höhepunkt macht. Daniel Smith kann so gut und fein charakterisieren, dass der Bruch mit Konrad ganz ohne aufgesetztes Schurkentum abläuft. Das ist im Grunde schon wieder nahe an Byron.
Genau wie die musikalische Auslegung nach der Version von 1867. Da gewinnt eine Tarantella im Einklang mit dem Korsarentanz des zweiten Aktes auf einmal jene bedrohliche Dämonie, die man diesem Tanz lange Zeit zugeschrieben hatte. Svetoslav Borisov und die Magdeburgische Philharmonie sind so etwas wie goldene Hufeisenbeschläge für das Magdeburger Ballett: Es glänzt alles und passt wie angegossen sogar im steilsten Galopp. Manchmal gibt es dann auf der glatten Fläche kleine Kratzer und Scharten. Doch immer nur dann, wenn Svetoslav Borisov zum Feuer auf der Bühne mithält und deshalb den Drive Adams mit den Zusätzen seiner Komponistenkollegen durch absichtliche Grobheit aufraut. Das ist an diesem Premierenabend wie Peperoncini im Gourmet-Kakao.
Verführerisch auch darin, dass sich wahrscheinlich einige Besucher der „Fliegenden-Holländer“-Produktionen in Magdeburg, Dessau und Halle so viel Meer, Regen, Sturm und Schiff gewünscht haben, wie bei „Le corsaire“ in Projektionen und beim Epilog zu haben sind. Nur der Schluss fällt etwas aus dem griechisch-osmanischen Bilderrausch, er zeigt mit den Korsaren und ihrer Braut auf großem Schiff ein Panorama wie in Schoenbergs Musical „Die Piratenkönigin“. So verorten Gonzalo Galguara und seine starke Kompanie ihren meisterhaften Ballettabend dort, wo er hingehört: In einer erlesenen, stellenweise derben und lustvoll illusionistischen Romantik mit Fernweh, Gefahren, großen Abenteuern und etwas Liebe. Das hätte Heinrich Heine sicher genauso gefallen wie die von ihm beschriebenen Willis in Adams steinerweichender „Giselle“.