Foto: Ensembleszene mit Eric Eisenach als Babajaga (l.) © Ray Behringer
Text:Gunnar Decker, am 28. November 2022
Der russische Wald tritt auf in sattem Rot und Blau, doch statt einer Birke dominiert ein großer Pilz den Bühnenhintergrund. Giftig? Dies antinaturalistische Bühnenbild, das Regisseur Arnim Beutel selbst entwarf, wäre in der Sowjetunion (und auch in der DDR) der frühen 1950er Jahre sofort unter Schdanows Verdikt über den Formalismus gefallen. Dieser bezeichnete das Kranke und Dekadente. Fällt darunter auch die Hexe Babajaga, die alles mit absolutem Machtanspruch beherrscht? Oder ist sie es selbst, die solch absurde Dogmen in die Welt setzt und jeden Widerspruch dagegen unter Strafe stellt?
Natürlich fällt einem da auch sofort Stalin ein, das Ungeheuer, für den Menschenleben nicht zählten. „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz wurde zum bekanntesten Synonym für jenen launischen Diktator, der alle Lebensbereiche vergiftet. Man denke an Benno Bessons Inszenierung von „Der Drache“ am Deutschen Theater Berlin von 1965 – ein Erfolgsstück, nicht zuletzt wegen seiner antitotalitären Tendenz.
Die Angst im Wald
Und nun sind wir im Wald, der die beiden Söhne von Wassilissa (Julia Siebenschuh), mit dem Beinamen „die Arbeitsame“, verschluckt hat. Sie ist so ausrechenbar gut wie Mütterchen Heimat. Schafft sie es, Licht in den dunklen Wald zu bringen? Wald, das ist unübersichtliches Terrain selbst für Zauberer. Wer weiß, was oder wer sich hinter dem nächsten Baum verbirgt? Im Wald steckt das Unbekannte, er bleibt ein unübersichtliches Terrain. Wer hier keine Angst hat, der lügt. Aber eben darum entsteht hier auch die Solidarität aller Geschöpfe gegen die lauernde Gefahr mit dem Namen Babajaga.
Dies ist die Geschichte von Wassilissas Suche nach ihren beiden verschleppten Söhnen. Drei Jahre schon durchstreift sie den Wald. Aber ihr Wille, sie nach Hause zu bringen, ist ungebrochen. Regisseur Arnim Beutel lässt seiner schier überbordender Fantasie freien Lauf, versieht jede Szene mit einem unerwarteten Einfall, wie dem gebrauchsuntauglichen Besen der Babajaga, der mal wie ein Moped laut knattert und dann endgültig absäuft, aber beim nächste Mal ohne Halt an der Hexe vorbeischießt. Auf die dienstbaren Geister kann sie sich schon mal nicht verlassen. Auf wenn dann? Die Hexe ist allein – dieses Bewusstsein verbreitet sich langsam aber stetig im Wald.
Ungeheuer besiegen, kein Ungeheuer sein
Anfangs zieht der Bär Mischka sehr umständlich (wunderbar in seinen „menschlichen“ Schwächen: Arnold Hofheinz) seine Lesebrille aus der Tasche und liest von einem Zettel vor, was er sagen soll. Das ist etwas anderes als das, was er eigentlich sagen will. Denn er ist hier der „Kettenbär“, den die Hexe beherrscht. Bis zur Herzenssprache ist es noch ein weiter Weg gegen die aufgezwungene Verlautbarungssprache. Da möchte einer so gern gut sein und steht doch im Auftrag des Bösen. So sind wir bei Jewgeni Schwarz immer sofort mitten drin in den Machtkonstellationen des Märchens, die denen der Diktatur adäquat scheinen. Insgesamt dreißig Märchenstücke schrieb Schwarz und alle kreisen darum, wie man das Ungeheuer besiegen kann, ohne dabei selbst zum Ungeheuer zu werden.
Im Wald wächst der Widerstand gegen deren Herrscherin Babajaga (virtuos in allen Nuancen der Egozentrik: Eric Eisenach). Noch wagt es keiner, laut zu rebellieren, denn der ungezügelte Narzissmus der Hexe macht sie unberechenbar. Kann die gute, aber simple Wassilissa, es denn mit der verschlagenen Hexe aufnehmen? Diese bietet nach Art aller absoluten Herrscher an, ihr die beiden Söhne zurückzugeben, die sie in ihren Besitz gebracht hat – wenn sie ihr zuvor einige Dienste erweist. Natürlich sind die übertragenen Aufgaben völlig unlösbar.
Aber Wassilissa weiß sich zu helfen, vertraut auf die verborgenen Kräfte des Waldvolkes – hier in Gestalt von Scharik, dem Hund (Mona Luana Schneider) und Kotofei Murlewitsch, einem herrlich pompösen Kater (Alice Macura). Wie diese beiden jungen Schauspielerinnen aus dem Verhältnis von Hund und Katze ein hinreißendes Kabinettstück nach dem anderen zaubern, das spricht für die überbordende Spielfreude, die Arnim Beutel im Ensemble zu wecken versteht. Er selbst steuert für dieses Kunststück von Weihnachtsmärchen ein fahrendes Ei auf Hühnerbeinen bei, Babajagas Aussteiger-Single-Wohnung.
Dem Spielwitz kommt der Sprachwitz der überragenden Übersetzung des Stücks von Rainer Kirsch entgegen. Hier stimmt alles, um der zerstörerischen Gefahr einen Traum entgegenzustellen, der frei macht: „Ich habe geträumt, ich wäre wach.“ Damit fängt immer alles an.