Foto: Das Ensemble in der Schlussszene © Franziska Götzen
Text:Detlev Baur, am 17. Januar 2020
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ ist der nicht eben einfache Titel dieses Klassenzimmerstücks am Theater an der Ruhr. Und tatsächlich hat die erste in Deutschland erarbeite Inszenierung des begnadeten italienischen Regisseurs Simone Derai mehr zu bieten als theatral verpackte Weisheiten in einem Stück, das von einer Klasse handelt und im Raum einer Schule aufgeführt wird.
Neun Tische mit Stühlen sind in drei Reihen aufgestellt, der Geschichtslehrer (Bernhard Glose) betritt den Raum und berichtet von seinem Leiden unter dem schulischen Zeitdruck, so dass die Laufbahn seiner Klasse wieder ausgerechnet mit den vielfältigen Genoziden des 20. Jahrhunderts endet. Inzwischen haben sich acht Schüler auf ihre Plätze gesetzt, ein Platz bleibt frei, womöglich ist es der von Vitalino Caccia. Der Lehrer spricht mit dem Rücken zum Publikum in ein Mikrofon hinein, er beschreibt schließlich die Verzweiflung dieses Schülers über die Massen an Ermordeten von Armenien bis Auschwitz.
Die Inszenierung basiert weitgehend auf dem Roman „Il sopravissuto“ von Antonio Scurati, der den Amoklauf eines Schülers beschreibt. Er erschießt bei den Abschlussprüfungen alle Lehrer, außer dem Geschichtslehrer. Der ist der Überlebende und Erzähler des Stücks. In einer seiner Meinung nach gelungenen pädagogischen Performance beschreibt, ja spielt nun ausgerechnet dieser – zukünftige – Überlebende, so seine in der Geschichte weit zurückgehende Lehrstunde, den zum Tode verurteilen Sokrates. Er referiert die Situation, wie sie in Platons Dialog „Phaidon“ beschrieben ist: Der zum Tode verurteilte Sokrates versucht seine Freunde zu beruhigen, indem er ihnen die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen versucht.
Dann werden auf der Rückwand des Klassenraums Filmbilder von antikenähnlich, mit kunstvollen Masken aus Kordeln und Stoff sowie weißen Tüchern bekleideten Figuren eingespielt und vom Lehrerdarsteller und einem der Schülerdarsteller synchron auf deutsch besprochen. Im Dialog des Sokrates mit dem ambitionierten Nachwuchspolitiker Alkibiades (aus dem gleichnamigen Dialog Platons) entsteht so ein komplexer Theatercomic über die Gefahren ungenauen Denkens. Die Szene steht im Zentrum der knapp zweistündigen Aufführung. Es folg noch die Beschreibung des vielfach tödlichen Anti-Lehrer-Amoklaufs, beschrieben von einer Gruppe, deren Gesichter mit Pulver verfärbt sind.
All das ist ambitioniert und so klug wie kunstvoll kombiniert. Derai (der neben der Regie auch für Co-Dramaturgie, -Kostüme, -Video und Lichtdesign steht) wagt einen assoziativen Reigen über Sinn, Ziele und Grenzen von Pädagogik, über Dummheit und Gewalt und spannt dabei mit zahlreichen, kunstvoll verknüpften künstlerischen Mitteln einen Bogen von der Antike in die Gegenwart. Mit artifiziellen Antikenbildern, Flug-Filmbildern über Landschaften, sehr präsentem Sounddesign von pochenden Schlaggeräuschen oder Basstönen (Musik und Sounddesign: Mauro Martinuz), tänzerischen Elementen und einem von Paola Barbon behutsam übersetzten Text.
Ein leichtes Unbehagen schleicht sich beim Betrachten jedoch ein, weil die Mülheimer Darsteller (neben Bernhard Glose auch Irene Blasig, Berkay Cetin, Dara Dyckerhoff, frank Kleineberg, Lena Kothe, Marius Meschede, Max Siegel und Lara Wolf) über das Funktionieren im Gesamtkunstwerk hinaus kaum Gelegenheit haben, ein Profil zu entwickeln. Somit ist „Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ auch ein Beispiel dafür, dass erste Schritte in einem fremdsprachigen Theaterland in aller Regel auch künstlerische Abstriche mit sich bringen. Vielleicht ist das Stück in der deutschen Fassung – die Videobilder beruhen auf der italienischen Urversion – auch schlicht gedanklich und konzeptionell überladen. In der großartigen „Orestie“, von Derai und seiner Truppe Anagoor, die im letzten Jahr in Mülheim zu sehen war, hatte das Gesamtkunstwerk über abendländische Geschichte mehr Text, Raum und Figuren, um Leben zu entwickeln. In der neuen Inszenierung ist das komplexe Spiel vorbei, bevor es sich richtig ausbreiten konnte.
Die vielleicht schönste Szene in die zweite: Der Lehrer berichtet von einer Unterrichtsstunde über den hehren Liebesbegriff der deutschen Romantik. Einige Schülerdarstellerinnen und -darsteller werfen währenddessen auf der einen Seite alte Bücher auf einen am Boden liegenden Menschen, auf der anderen werden nasse Bücher zwischen Steinplatten ausgepresst. Hier zeigt sich Derais großes Talent, komplexe geistesgeschichtliche Zusammenhänge in berückend schönen und anregenden Bildern gleichsam zum Klingen zu bringen.
Bei allen Einschränkungen ist diese philosophische Schultheater ein außergewöhnlicher künstlerischer Anstoß, sich mit unserem Bildungsgedanken grundsätzlich auseinanderzusetzen. Ein Amoklauf dient in diesem eigenwilligen Stück aus einem Klassenzimmer nicht als Ausgangspunkt dazu, psychologisch oder gar belehrend über den Täter zu schwadronieren, sondern tiefer zu graben in Geschichte und System, letztlich über das menschliche Leben und Sterben, ja Kreatürlichkeit überhaupt nachzudenken.