Foto: Costa Latsos, Chor und Extrachor des Theaters Osnabrück © Jörg Landsberg
Text:Roland H. Dippel, am 6. Juli 2019
Scharren unter der Erde: Aus einem Grab stemmt sich ein Totgeglaubter. So beginnt der zweite Aufzug der Tragédie en musique „Guercœur“: Entstanden zwischen 1897 und 1901, posthum uraufgeführt 1931 in Paris, entdeckt jetzt das Theater Osnabrück die Oper von Albéric Magnard (1865–1914) und leistet die deutsche Erstaufführung – und das ist, kaum glaublich, die erste Produktion nach der von Guy Ropartz, einem Freund des Dichterkomponisten, eingerichteten Fassung. In der letzten Vorstellung am 5. Juli übernahm Daniel Inbal die musikalische Leitung von GMD Andreas Hotz und leitete das Osnabrücker Symphonieorchester, welches nach der Sommerpause sein 100jähriges Jubiläum feiern wird, souverän durch die von allen Mitwirkenden den physischen Großeinsatz fordernde und fast drei Stunden dauernde Oper.
In der Partitur kommen melodische Leuchtkraft, ein mit dramaturgischen Mittel des späten Wagner gestaltetes Textbuch und episch-kantatenhafte Strukturen zur Synthese. Nach einer Reihe mit Entdeckungen von Opern aus dem frühen 20. Jahrhundert wie Braunfels‘ „Die Vögel“ und Hans Gáls „Lied der Nacht“ war man in Osnabrück bei diesem Werk angekommen, dessen gebildeter Komponist ‚Wagnérisme‘, große Oper, Mysterienspiel, Zivilisationskritik zu einem eklektizistischen Meisterwerk verbindet. Das Publikum der ausverkauften und von vielen Auswärtigen besuchten Vorstellungen zeigte sich von der ersten bis zur letzten Sekunde mit ungewöhnlicher Konzentration fasziniert. Ein Triumph! Anwesend waren Milena Vlach-Magnard, die Urenkelin des Komponisten, und Pierre Carrive, Vorsitzender der Albéric-Magnard-Gesellschaft, die sich für die Erschließung des Nachlasses von Magnard einsetzt, von dem große Teile beim Brand seines Anwesens 1914 vernichtet wurden.
Magnard, Sohn des Chefredakteurs der Pariser Zeitung „Le Figaro“, hatte beim Besuch der Bayreuther Festspiele und einer Vorstellung von „Tristan und Isolde“ 1886 ein künstlerisches Initiationserlebnis. In späteren Jahren hielt er zunehmend Distanz zur Pariser Kulturszene und hinterließ nach seinem Tod 1914 bei einem nie geklärten Schusswechsel mit deutschen Angreifern ein verhältnismäßig schmales Gesamtwerk mit 22 Opus-Zahlen und einigen unnummerierten Werken. Vorausgegangen war der Osnabrücker Produktion 2019 eine Aufführung von Magnards Oper „Yolande“, die der Dirigent Lars Straehler-Pohl für das Evasion Musiktheater in Berlin instrumentiert hatte. Am 22., 23. und 24. Januar 2020 erklingt die dritte Sinfonie von Magnard in Gera und Altenburg.
Aus dem Jenseits, in dem sich Seelen verstorbener Menschen in einem Zustand der Ausgeglichenheit und glücklichen Emotionslosigkeit befinden, sehnt sich Guercœur (deutsch: Kriegerherz), der die Regierung seines Volkes von einer Monarchie in eine fortschrittliche Regierungsform mit demokratischen Zügen überführt hat, zurück in die irdische Sphäre. Doch bei diesem Ausflug wird er grausam enttäuscht: Seine Witwe Giselle, die ihm ewige Treue geschworen hat, lebt jetzt in einer Beziehung mit Guercouers früherem Schüler Heurtal, der aus egoistischen Gründen Diktator werden will. Das Volk sehnt sich aus der Freiheit zurück unter die Knute und macht Guercœurs politischen Aufbruch zunichte. Der frühere Sympathieträger wird gelyncht, im Jenseits bereut Guercœur seine Sehnsucht nach der Vergangenheit. Vérité, eine Personifikation der Wahrheit, prophezeit den Weg der Menschheit in eine von Kompetenz und Klugheit geleitete Zukunft.
Magnard hat zu dieser mit Poesie, symbolistischen und barocken Sprachbildern getürmten, letztlich aber einfachen Handlung eine großartige Musik komponiert. Das Theater Osnabrück hat dieses packende, aber auch das Risiko üppiger Schwüle bergende Werk, intelligent und faszinierend realisiert. Man vergisst den ganzen Abend, dass das Theater am Domhof keine ideale Akustik hat und es sich um ein mittelgroßes Orchester handelt. Die rauschhafte Wirkung ist vom ersten Takt an da – mit kitschfreier Suggestionskraft, innerem Spannungspotenzial und Energie bis zum langen Schluss, in dem auf die von Lina Liu als Verité mit Reserven und Leuchtkraft gesungenen Seligpreisungen ausgedehnte Nachspiele und sphärische Töne folgen.
Profaner und metaphysischer Hymnenton wie in Korngolds „Wunder der Heliane“, ein arioses Schwelgen wie in Chaussons „Le Roi Arthus“ und manchmal eine orchestrale Leuchtkraft wie bei Richard Strauss: Das sind die musikalischen Parameter in „Guercœur“. José van Dam und Hildegard Behrens sangen die Hauptpartien in der bisher einzigen vollständigen Einspielung unter Michel Plasson aus dem Jahr 1986. Sämtliche Sänger, die mit Ausnahme des Tenors und der Mezzosopranistin Nana Dzidziguri aus dem Osnabrücker Ensemble stammen, wachsen um den im Zentrum des Werkes erforderlichen Heldenbariton mit unerlässlich geschmeidigen und ausdauernden Eigenschaften an diesem Abend über sich hinaus: Rhys Jenkins in der Titelpartie – Costa Latsos, der seinen beeindruckenden Tenor für den zwiespältigen, aber nicht ohne Charisma auskommenden Volksverführer Heurtal einsetzt und Susann Vent-Wunderlich, die in ihrer langen, immer wieder stockenden und im Spannungsaufbau heiklen Erzählung das intensive Porträt einer zwischen Reue und Lust Zerrissenen entwirft. In den Partien der weniger intensiv geforderten Sphärenwesen verströmen Katarina Morfa (Bonté / L‘ombre d‘une femme), Nana Dzidziguri (Souffrance), Erika Simons (Beauté / L‘ombre d‘une Vierge) und Daniel Wagner (L‘ombre d‘un poète) klare und kräftige Wohllautfülle.
Regisseur Dirk Schmeding lässt das Geschehen in einem Planetenwirbel mitten in der Milchstraße beginnen, in dem nur die hellen Köpfe der Seelen wie Planeten in ihren Umlaufbahnen aus dem Dunkel leuchten. Motorische Gleichförmigkeit und technische Choreografie. Schmeding und die Bühnenbildnerin Martina Segna schaffen klare Strukturen und finden damit einen mäßigenden Kontrast zur überbordenden Farbintensität der Partitur. Dabei fallen die drei Handlungssphären des Jenseits, der irdischen Beziehungskalamitäten und der ihrer Freiheit müden Massen nicht auseinander, weil Schmeding die Kontraste nur so weit vergrößert wie nötig. Der intensive Dreieckskonflikt des neuen Paares und des zurückgekehrten Guercœur spielt in der konkreten Gegenwart eines Schlafzimmers. Bei den Volksszenen drängen der von Sierd Quarré einstudierte Chor und Extrachor über Rang und Zuschauerraum mit Luftballons aus dem Zuschauerraum über die Seitenstege auf die Bühne und pressen sich dort eng zusammen. Pink-Violett als Gegenpol zum Schwarz-Weiß des Jenseits ist hier der irdisch verhaftete Farbton und verheißt politisches Glück. Am Ende versuchen Sanitäter vergeblich, den blutüberströmten Guercœur ins Leben zurückzuholen. Man schließt über Guercœurs Leiche den Sarg, am Ende wird die Urne mit seiner Asche verplombt.
Wahrscheinlich ist die Osnabrücker Produktion deshalb so gelungen, weil sie einfache und klare, aber keine bemühten Bilder findet. Guercœur ist wie der Jedermann des Mysterienspiels. Auf der kleinen Bühnenfläche erlangen die szenischen Mittel eine dichte Präsenz: Martina Segna zeigt im langen zweiten Akt, in dem auf die Harmonie der Seelen das durch Ambivalenz zermürbende Kammerspiel folgt, mit dem Schlafzimmer Giselles den einzigen ‚realen‘ Ort des Abends. Sonst hüllt Kostümbildner Frank Lichtenberg die Kollektive und überirdischen Figuren meist in dezentes Schwarz. Auf diese Schlichtheit reagieren auch die Musiker. Es geht nicht um Katholizismus oder eine andere Konfession. Magnards Bekenntniswerk steht auch durch Aufwand und Anspruch mit den Dimensionen von Wagners „Parsifal“, Berlioz‘ „Les Troyens“ und Janáčeks „Totenhaus“ auf vergleichbarer Höhe des Wollens. Die Musik entfaltet zu diesem spirituellen Sujet eine gewaltige Kraft, der man sich schwerlich entziehen kann. Intensiver Jubel.