Foto: Marie-Dominique Ryckmanns als Sophie Scholl © Staatsoper Hamburg
Text:Detlef Brandenburg, am 10. Mai 2021
Betrachtet man die filmische Realisierung von Udo Zimmermanns Kammeroper „Weiße Rose“, die als Produktion der Staatsoper in Hamburg pünktlich zu Sophie Scholls 100. Geburtstag am 9. Mai 2021 auf Arte herauskam, unter dem Aspekt der durch die Corona-Pandemie heftig befeuerten Diskussion über „digitales Theater“, findet man hier Anstöße zu einer grundsätzlichen Erkenntnis: Die mediale Adaptionen eines eigentlich für die reale Bühne gedachten Werkes gelingt offenbar am ehesten dann, wenn sich das Team von allen vermeintlichen Verpflichtungen zur Werktreue befreit und sich konsequent der Dynamik digitaler Ästhetik öffnet. Dass sich der Regisseur David Bösch sowie die gemeinsam für Bühnenbild, Kostüm und Animation zuständigen Patrick Bannwart und Frank Herold und auch der Dirigent Nicolas André auf diese Dynamik eingelassen haben, war der Schlüssel zu einer faszinierend neuen Realisation dieser Kammeroper über die Widerstandsgruppe gegen das NS-Regime um die Geschwister Sophie und Hans Scholl. Diese Produktion lässt die Unsancen einer traditionellen Inszenierung konsequent hinter sich und gibt dem Werk eine völlig neue Erscheinungsform. Dabei waren hier ja durchaus Theaterleute am Werk – vielleicht der verblüffendste Aspekt an dieser Produktion.
Die digitale Video-Ästhetik zeichnet sich ja unter anderem dadurch aus, dass im Kontinuum des Virtuellen alles mit geradezu sinneverwirrender Leichtigkeit und in schier grenzenloser Vielschichtigkeit möglich und dass auch jede nicht genuin digitale Kunstform mühelos adaptierbar ist. Was Letzteres angeht, bedienten sich Bannwart und Herold vor allem bei den Stilmitteln der Graphic Novel im Schwarzweiß-Appeal des Scherenschnitts: Nazi-Schergen mit bösartig gezackten Wolfsmäulern und Hakenkreuz-Augen geistern durch das Geschehen, schwarze Endzeitlandschaften breiten sich aus, von einem wie durch Ascheflocken verdüsterten Himmel regnen Leichen herab. Da kommt einem unversehens Paul Celans „Todesfuge“ in den Sinn: „…dann steigt ihr als Rauch in die Luft, dann habt ihr ein Grab in den Wolken…“ Unterlegt ist diese bizarre Bildwelt mit einer Filmerzählung von den letzten Stunden der Geschwister vor deren Hinrichtung, die zwischen psychisch aufgeladenen Close-Ups und durchaus realistischen Anspielungen auf Widerstandsaktionen oder NS-Verhöre wechselt: zwei Verlorene in ihren klaustrophobisch engen Zellen, die sich aber immer wieder in surreale Assoziations-Szenarien weiten. Und dieses Doppelkontinuum wiederum wird zusätzlich gerahmt durch alle möglichen Text- und auch Klang-Einblendungen und Bildanspielungen zum historischen Kontext.
Zimmermanns Kammeroper, 1986 an der opera stabile der Hamburger Staatsoper uraufgeführt, ist wie gemacht für eine solche Phantasmagorie des Todes. Sie konzentriert sich ja tatsächlich auf die letzten Stunden des Paares bis zur Hinrichtung und ist weniger Erzählung als irrlichternde Innenschau – gleichsam ein doppelter stream of consciousness zweier Todgeweihter voller unvermittelter Umschwünge, bildreicher Assoziationen und geschmeidiger „Überblendungen“. Diese Musik hat schon per se etwas Filmisches und wurde vom Team durch einige Eingriffe vollends zum Soundtrack der Bilderflut adaptiert. Aber genau das ist die Stärke dieser Produktion. Diese Bildklangwelt ist ständig unter Spannung und geht wirklich unter die Haut; und sie korrespondiert perfekt mit dem ekletizistischen Psychologismus von Zimmermanns Musik. Auch die 15 Instrumentalisten sowie die Sopranistin Marie-Dominique Ryckmanns als Sophie und der Bariton Michael Fischer als Hans Scholl singen und musizieren vorzüglich. Man erlebt ein faszinierendes Video-Musik-Kunstwerk, das seiner Werk-Vorlage jenseits der Werktreue auf überraschend eigenwillige Weise gerecht wird.
Zu sehen noch bis zum 6. August in der Arte Mediathek und auf der Homepage der Staatsoper Hamburg