Foto: Jan-Hendrik von Minden (Woyzeck) und Ensemble © Jochen Klenk
Text:Eckehard Uhlig, am 4. Februar 2024
Das Theater Pforzheim zeigt „Woyzeck“ von Georg Büchner als eine eigenwillige Adaption. Die Inszenierung ist stellenweise überzeichnet, punktet aber mit rührenden Momenten.
Den Pflichtlektüren zum Abitur im Fach Deutsch sei Dank. Davon angeregt schaffen es immer noch deutschsprachige Schauspiel-Klassiker in die Theater-Spielpläne – zur Freude der Lehrer, die mit einem Aufführungsbesuch ihrer Schüler:innen und dessen Besprechung den Unterricht bereichern können.
Übriges Fragment
In dieser Spielzeit ist in Baden-Württemberg Georg Büchners „Woyzeck“ angesagt, auch wegen seiner komplexen Entstehungsgeschichte ein heikles Stück. Denn sein Autor, der im Alter von 23 Jahren 1837 an einer Infektionskrankheit verstarb, konnte sein letztes literarisches Werk, dessen Inhalt sich auf einen realen Kriminalfall bezieht, nur als unfertiges Fragment hinterlassen. Die Uraufführung erfolgte erst 1913 am Münchener Residenztheater. Bis heute diskutieren Philologen die richtige Reihenfolge der bruchstückhaft überlieferten Szenen und die Herstellung einer spielbaren Textfassung. Das reizt Regisseure, eigene Versionen auf die Bühne zu bringen.
Im Vordergrund Leonie Jacobs (Marie) und Ensemble. Foto: Jochen Klenk
In Pforzheim überrascht zunächst ein vordergründig freundliches Bühnenbild (Ausstattung: Esther Bätschmann) mit farbig gestreiftem, leicht erhöhtem Manege-Spielkreis in der Bühnenmitte, auf dem ein buntbemaltes Schaukelpferd steht. Gewissermaßen gespiegelt sieht man im Hintergrund durch eine große runde „Himmelsaugen“-Öffnung denselben Bühnenaufbau, allerdings dunkel vernebelt mit schwarz-weißem Pferdchen. Auf diesen beiden Plätzen ereignet sich Elias Perrigs Inszenierung des rätselhaft kryptischen Büchner-Dramas, beginnend mit karikaturistischem Zirkusklamauk zu rhythmisch musikunterlegten Kasperle-Tänzen aller Protagonisten, endend als melancholisch-stimmungsvolles Trauerspiel. Der Pforzheimer Regisseur hat Szenen recht eigenwillig verändert, manches weggelassen oder hinzugefügt und das Text-Konglomerat mit monologischen Passagen aus Büchners Erzählung „Lenz“ angereichert.
In die Enge getrieben
Der junge, burschenhaft adrett gekleidete Soldat Woyzeck wird von Jan-Hendrik von Minden zunächst als durchweg einfältiger netter Kerl gegeben, der unbeschwert nur mit seinem Soldaten-Freund Andres (Max Ranft) herumtollen kann. Sonst aber von einem unsympathisch-sarkastischen Doktor (Andreas C. Meyer) geschurigelt und mit einer experimentellen Erbsen-Diät in die krankhaft-psychotische Krise getrieben wird. So endet die Titelfigur schließlich auf dem Boden des vorderen Spielkreises abwechselnd unverständlich stammelnd oder nach Stille schreiend als Mörder in einem epileptischen Krampf-Anfall. Auch von einem anderen Akteur, seinem Hauptmann, der sinnfällig im schwarzen Herrenreiter-Frack per Huckepack auf seinem Untergebenen hockt, wird der Unterste in der gesellschaftlichen und militärischen Hierarchie in die Enge getrieben. Diese Szenen gehören zum Besten des nicht immer schlüssigen Theaterabends, weil Jens Peter als Hauptmann eindringlich artikulierend zu sprechen und mit wenigen Gesten intensiv zu spielen versteht.
Der dritte, in Pforzheim lächerlich parodierende Peiniger Woyzecks, ist der Tambourmajor (Jacob Hetzner), der mit anzüglich peinlichen Verrenkungen im Becken- und Hüftbereich als eine Art Sex-Kreatur offensichtlich die Frauen beeindruckt. Zu diesen zählt Marie, die Lebenspartnerin Woyzecks, mit dem zusammen sie ein Kind hat, das sie freilich in Perrigs Inszenierung allenfalls per Fernweh-Blick vergegenwärtigt. Sie ist nicht – wie bei Büchner angelegt – eine animalisch getriebene, zwischen Männern zerriebene verführende Verführte. Leonie Jacobs gibt die weibliche Hauptfigur stattdessen als fröhlich Volks- und Schlaflieder singendes, verspieltes Kind-Frauchen, das ausgelassen auf dem Schaukelpferd reitet.
Dabei leistet ihr Freundin Margreth (Nika Wanderer) Gesellschaft, die vor allem – vom hinteren Spielkreis aus – die Textstellen aus „Lenz“ rezitiert, welche dessen Wahnvorstellungen und Psychosen erläutern. In einer Szene sieht man zärtliche Umarmungen zwischen Marie und Woyzeck, in einer anderen als Kontrapunkt eine Begegnung Maries mit dem Tambourmajor, der brutal-handgreiflich zur Sache geht. Wie der eifersüchtige Woyzeck seine Marie im Wahn ersticht, ist nur sanft angedeutet.
Zum Schluss das Anti-Märchen
Am Ende der Aufführung tritt in einer Traumsequenz die tote Marie ganz in Schwarz gekleidet noch einmal in den Vordergrund und erzählt Büchners berühmtes, abgründig trauriges Anti-Märchen der Großmutter: Vom armen Kind, das vergeblich in den Himmel gehen wollte, weil alles tot war auf der Welt, und ganz allein dasitzt und weint. Damit bietet Leonie Jacobs einen wunderbar anrührenden Theaterschluss.