oben v.l.n.r. Elizabeth Reiter (Renee; im blauen Kleid und alle Frauen) und Samuel Levine (Andy) sowie oben und unten Jeff Burrell (Fred) und Rupert Enticknap (Mystery Man)

Persönlichkeitsstörung digital

Olga Neuwirth: Lost Highway

Theater:Oper Frankfurt, Premiere:12.09.2018Regie:Yuval SharonMusikalische Leitung:Karsten Januschke

Yuval Sharon inszeniert an der Oper Frankfurt Olga Neuwirths „Lost Highway“

„Warten auf Godot der Leidenschaft und Nähe – eine Versuchsanordnung der Vergeblichkeit“ – so beschreibt Olga Neuwirth ihre Komposition, die eine Vertonung von David Lynchs filmischen Meisterwerk des ‚Uncanny‘ darstellt. Das hat wohl auch Yuval Sharon inspiriert, der nun in Frankfurt für die deutsche Erstaufführung verantwortlich zeichnet. Was er im Bockenheimer Depot auf die Bühne stellt, kommt tatsächlich einer Laborsituation gleich, in der experimentell die Möglichkeiten einer intermedialen Verwindung der Mittel von Oper und Film ausgelotet werden.

Die Bühne (Jason H. Thompson, Kaitlyn Pietras) ist über ihre gesamte Breite horizontal zweigeteilt: Ihr unterer Teil ist eine Art Greenbox, wie man sie vom Film kennt. Dabei handelt es sich um einen gänzlich grün ausgekleideten Raum, der es ermöglicht, darin befindliche Personen und Gegenstände in der Bearbeitung filmisch so freizustellen, dass man sie vor jeden beliebigen Hintergrund setzen kann. Das ist auch schon der zentrale Clou des ersten Teils des Abends, denn alles, was in der Greenbox zu sehen ist (und nicht grün ist), wird Teil eines live produzierten Films, der auf der darüber liegenden Leinwand zu sehen ist. Schnell wird klar, Fred Madison lebt in einer virtuellen Welt, in einer Simulation zwischen Videospiel- und Virtual Reality-Ästhetik, in der er mit seiner ebenso virtuellen Frau Renée, die stets nur als Projektion zu sehen und zu hören ist, lebt und interagiert.

Die Gemachtheit dieser Simulation ist parallel dazu konstant einsehbar und wird ostentativ ausgestellt. Dieser Effekt des liveproduzierten Films ist nicht neu, aber immer noch aufregend. Zum einen weil der Kontrast zwischen analogem Fleisch und Blut und der Ungreifbarkeit digitaler Welten auf einer Opernbühne nach wie vor ungewohnt und sehr spannungsreich ist. Zum anderen weil hier diese Gemachtheit zunehmend an theatraler Präsenz gewinnt und die Filmtechnik so zur performativen Praxis wird. Nachdem also zunächst der filmtechnische ‚Trick‘ etabliert und für den Zuschauer nachvollziehbar gemacht wurde, verwandeln sich die vermeintlichen Bühnenarbeiter in ihren grünen Ganzkörperanzügen in eine figürliche Bedrohung für Fred Madison. Sie begegnen ihm zunehmend aggressiv, drangsalieren und nötigen ihn. Sie harren aus und beobachten ihn mit ihren durch die grünen Strumpfmasken nur angedeuteten Gesichter: die Mittel der Erzeugung seiner Welt bekommen ein Eigenleben und wenden sich schließlich gegen ihn.

Sharon begeht erfreulicherweise nicht den Fehler, diesen Effekt bis zum Ende auszureizen, sondern erschafft, nachdem Fred sich in Pete verwandelt hat, eine neue Ästhetik für den zweiten Teil des Abends. Petes Welt findet überwiegend im oberen Teil der Bühne statt und versucht dort das Spiel von leiblich anwesenden Akteuren in filmisch-virtuellen Settings noch einmal neu und anders zu erschaffen. Diesem Spiel zu folgen, hinter seine ‚Tricks‘ zu kommen und sich von den immer wieder neuen Ideen im Umgang mit diesem Spiel verblüffen zu lassen, macht sehr viel Spaß. Leider geht das nicht ganz so gut auf wie im ersten Teil: Die Darstellungsebene verbleibt zunehmend im zweidimensionalen Raum des Films, wodurch auch die Leiblichkeit der anwesenden Akteure nach und nach in der filmisch-virtuellen Realität zerfasert. Das theatrale Moment der leiblichen Kopräsenz, der Unmittelbarkeit von Akteur und Zuschauer sowie die Dreidimensionalität des Bühnenraums verlieren sich darin. Beeindruckend anzusehen ist das aber allemal.

Das ungreifbare subkutan Bedrohliche, das Lynchs Film so stark prägt, findet nicht nur in Olga Neuwirths grandioser Komposition musikalischen Ausdruck, sondern hier durch das intermediale Spiel der Körper und Bilder gleichsam einen ebenbürtigen visuellen. Das Spiel mit der Überschreitung und der Transformation ist – das liegt beinahe in der Natur der Sache – meist an den Übergängen am stärksten. Immer dann, wenn eine Verwandlung initiiert wird, findet Sharon dafür die fantastischsten Bilder, deren immersive Kraft trotz aller ausgestellter Konstruiertheit enorm ist.

Dennoch hat die Produktion auch ihre Schwächen: Bei aller Hochachtung vor der technischen Leistung fehlt leider der Illusion ab und an (noch?) die Perfektion. In diesem Zusammenhang ist auch eine gewisse Unentschlossenheit hinsichtlich der zeitlichen Einordnung auffällig. Während Fred und Pete beide mit einem iPhone telefonieren, steht Reneé, immer wieder mit einer Videokasette in der Hand in der Tür und spricht in ein Wandtelefon. Da sich auch die Kostüme stark an der Ästhetik des Films orientieren (Petes Eltern in Karottenjeans, Renée im überlangen Morgenmantel), fällt die parzielle technische Aktualisierung merkwürdig aus dem Rahmen. Auch die Figuren sind nicht aus einem Guss, wobei kaum zu sagen ist, ob die Verantwortung dafür bei der Regie oder den Akteuren selbst liegt. Während Rupert Enticknap als Mystery Man leider eher unfreiwillig komisch als zwischenweltlich bedrohlich auftritt und auch Jeff Burrells Fred etwas unterkomplex und hölzern erscheint, füllen Elizabeth Reiter als Alice/Renée und John Brancy als Pete hingegen ihre Rollen aus und mit sehr viel Leben.

Die zusammenhaltende Klammer für all das bildet jedoch die absolut herausragende musikalische Leistung des Ensemble Modern unter der Leitung von Karsten Januschke in perfekter Harmonie mit Liveelektronik und Sounddesign (Markus Noisternig, Gilbert Noumo). Die Perfektion, die die Szene vielleicht gelegentlich vermissen lässt, kann man hier finden. Vor dieser überragenden musikalisch interpretierenden aber auch vor der technischen Leistung kann man nur den Hut ziehen. Selten war es möglich, in die Klangwelten zeitgenössischen Musiktheaters so abzutauchen.