Foto: Grafik zu "This Evening's Performance has not been cancelled" © Oper Wuppertal
Text:Konstanze Führlbeck, am 2. Juni 2020
Per Telefon ins Theater, das macht das Audiokunstprojekt „This Evening’s Performance has not been cancelled“ möglich. Kunstfreunde können sich durch einen Anruf mit Theatern und Festivals aus ganz Europa verbinden, mit Künstlern und Produzenten sprechen, Stücke aus ausgewählten Produktionen über das Telefon anhören. Die Idee zu diesem Projekt stammt von Dramaturgin Vilde Gustavsen von der Nationaloper Bergen in Norwegen in Zusammenarbeit mit der schottischen Künstlerin Zoë Irvine und knüpft an ein Phänomen aus dem 19. Jahrhundert an: das Theatrophon als dem Vorläufer des heutigen Streamings. Musikliebhaber und gekrönte Häupter verfolgten damals über das Theatrophon Live-Aufführungen aus der Pariser Opéra oder der Wiener Staatsoper. In der aktuellen Version 2020 sieht das etwas anders aus und trägt der multimedialen Wahrnehmung der Postmoderne Rechnung, die das Hin- und Her-Switchen liebt. 2020 rezipiert und kommuniziert man bevorzugt häppchenweise, wenn man nicht ins Live-Geschehen eingebunden ist.
Wer sich über die zentrale Nummer einwählt, hört erst ein kurzes perlendes Klaviermotiv, ein musikalisches Erkennungszeichen des Projektes, dann wird er zu einem Sprachmenü weitergeleitet, wie man es von Call Centern kennt, und muss durch Drücken einer Zifferntaste angeben, mit welchem der beteiligten Opernhäuser und Festivals er verbunden sein möchte. Neben der Bergen Nasjonale Opera in Norwegen sind auch das Teatro Real in Madrid, das Grand Théâtre de Genève, das britische Festival Garsington Opera, die Airport Society im belgischen Antwerpen, das Muziektheater Transparant, die Dutch National Opera und das Holland Festival, das während des Corona-Ausbruchs gerade eine Koproduktion mit der Staatsoper Hannover vorbereitete, und die Wuppertaler Bühnen mit von der Partie. Allen Häusern ist gemeinsam, dass sie wegen der Pandemie abrupt aus ihrem Vorstellungsbetrieb gerissen wurden oder sogar unmittelbar bevorstehende Premieren, selbst Uraufführungen, platzen lassen mussten. Das war nicht nur ärgerlich für Karteninhaber, sondern traf auch die beteiligten Künstler hart, nicht nur finanziell.
Anstelle eines passiv zu konsumierenden Streams bietet „This Evening’s performance has not been cancelled“ die Chance zu einem interaktiven Kontakt. Zwangloses Reinschnuppern in die Produktionen aus der Vor-Corona-Zeit durch Fragen an Mitwirkende zu den Stücken steht auf dem Programm, ebenso der Erfahrungsaustausch mit Künstlern – und zum Abschluss des Gespräches folgt dann noch ein kleiner Ohrenschmaus am Telefon. Und das beliebig oft, mit unterschiedlichen Gesprächspartnern, zwei Stunden jeweils von 19.30 bis 21.30 Uhr an drei verschiedenen Abenden.
Interessante Gespräche und Einblicke ergeben sich so, der Anrufer und der Künstler treten in einen Dialog, der sich ganz ungezwungen entwickelt, ein Kaleidoskop unterschiedlichster Eindrücke setzt sich immer wieder neu zusammen, fast wie bei der Aleatorik von John Cage.
„Anfang März hatten wir Besuch von den Technikern aus Hannover“, erzählt Ad van der Koog, Produzent beim Holland Festival, in flüssigem, nahezu akzentfreiem Deutsch über die Arbeit an Ben Frosts neuer Oper „Der Mordfall Halit Yozgat“. Sie sollte zuerst an der Staatsoper Hannover uraufgeführt werden und dann im Sommer in Holland über die Bühne gehen. „Eine Woche später war die Situation ganz anders. Wir haben aber noch ziemlich lange gewartet, bevor wir entschieden haben, das ganze Festival abzusagen.“ Inzwischen arbeitet er mit den Künstlern an einer Online-Version der neuen Oper, einer filmischen Realisierung. „Wir wollen vom 11. bis 21. Juni ein Online-Festival präsentieren. Ob der Film rechtzeitig fertig sein wird, weiß ich nicht“, gibt er im Gespräch offen zu. „Die Geschichte hat mich persönlich sehr berührt, sie greift die NSU-Morde in Kassel auf. Das waren eben gerade nicht Döner-Morde im türkischen Milieu, die Polizei hat damals weggeschaut. Und Ben Frost hat sich von einer Videoinstallation bei der Documenta Kassel zu diesem Thema inspirieren lassen, ich war richtig gespannt, wie das ausgehen würde. Die Produktion war schon ziemlich weit, als wir aufhören mussten.“ Wer jetzt neugierig geworden ist, konnte einen Auszug aus der Oper am Telefon hören. In den leisen Klängen mit ihren lang gezogenen Liegetönen schwang eine dräuende Bedrohung mit, sirrende Violinläufe unterstrichen die Spannung in dem Dialog zwischen einem Mann und einer Frau. Nur die Tonqualität hätte besser sein können, man fühlte sich an die Übertragungstechniken früherer Zeiten erinnert. Vielleicht ist das ja so gewollt.
Andere Erfahrungen hat der Opernchorsänger Marco Agostini von den Wuppertaler Bühnen gemacht. Seine Produktion „La Bohème“ konnte er zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen noch vorstellen, aber viele Aufführungen mussten ausfallen. Er erzählte von dem Konzept der Oper, das die vier Künstler in der heutigen Zeit in ihrer selbst gebastelten Welt aus Pappe und Papier zeigt, und plauderte über seine Erfahrungen während der Aufführungen, vor allem beim Finale des zweiten Aktes. „Da war ein Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen, da waren so viele Leute auf der Hinterbühne und in den Kulissen, dass es schon eine Aufgabe war, pünktlich zu seinem Auftritt auf der Bühne zu sein“, erinnert er sich lachend.
Dann war abrupt alles zu Ende, weil es einen Corona-Verdachtsfall im Ensemble gab. „Für uns war das eine große Umstellung im täglichen Lebensablauf. Wir leben, um zu spielen, und wenn wir nicht spielen, proben wir. Das alles fiel plötzlich weg. Wir mussten unsere Stücke in Heimarbeit studieren und erhielten dazu Notenmaterial und Audiobeispiele nach Hause. Ab und zu gab es über Zoom eine Chorversammlung, ansonsten lief die Kommunikation über eMail.“ Aktuell probt er schon Stücke für die nächste Spielzeit. „Wir tun so, als würde sie ganz normal stattfinden. Wir wissen es aber noch nicht. Wir planen auch Alternativen – Vorstellungen mit maximal 100 Leuten im Zuschauerraum. Bei einer Betriebsversammlung haben wir schon mal ausprobiert, wie das funktionieren könnte.“ Ob ich nicht auch noch etwas aus dem Stück sehen oder hören möchte? Zusätzlich zu den Trailern auf der Website stehen „Che gelida manina“ oder „O soave fanciulla“ zur Auswahl. Ich entscheide mich für letzteres. „Oh, die vorigen Anrufer wollten alle das erste hören“, verabschiedete sich Marco Agostini, während ich mich von den Klängen des berühmten Liebesduetts davontragen ließ – weg aus der Corona-Zeit ins Land der Phantasie.