Foto: Internationales Patchwork in Alain Platels "Tauberbach" an den Münchner Kammerspielen © Chris Van der Burght
Text:Detlev Baur, am 17. Januar 2014
Bunte Kleider bedecken die Bühne der Kammerspiele wie eine Patchworkdecke. Das hat wenig zu tun mit dem Schmutz im Dokumentarfilm „Estamira“ über eine Frau auf einer Müllhalde bei Rio de Janeiro, laut Programmheft eine Vorlage für die Inszenierung ; eher erinnert der Schauplatz an das Maximilanstraßen-Modestück „Die Straße. Die Stadt. Der Überfall“ von Elfriede Jelinek, das vor anderthalb Jahren hier uraufgeführt wurde. Die Schauspielerin Elsie de Brauw spricht Worte der verrückten und würdevollen Estamira und wird in dieser internationalen Patchwork-Produktion von fünf Tänzern begleitet. Und von einer verzerrten Männerstimme nachgeäfft oder in absurde Dialoge eingebunden. Akustisch bestimmt aber (eingespielte) Musik von Bach das Spiel; teilweise orchestral, teilweise über den Gesang Gehörloser.
Das Videoprojekt „Tauber Bach“ ist also eine weitere Inspirationsquelle der Inszenierung und Pate des Titels. All das ist so vage und komplex, schwer beschreibbar und kaum einzuordnen – wie die gesamten 100 Minuten. Aus dem bunten Boden lassen die Tänzer-Kreaturen ihre Gliedmaßen emporwachsen. Sie bilden Paare oder eine Gruppe, umschwärmen Elsie de Brauw oder brillieren in Soli. Ross McCormack etwa holt eine Fliege aus seiner Brusttasche und lässt diese mit Hilfe eines von oben herabbaumelnden Mikrofons in verschiedenen Tempi durch den Raum schwirren, bis sie sich zu Musik und dann in die Stimme eines rasend schnell und dabei unverständlich brabbelnden Auktionators verwandelt und anschließend wieder in seine Fliege.
Metamorphosen sind gewiss ein Hauptmotiv von „Tauberbach“. Tänzer und Schauspielerin wechseln die bunten Gewänder, einmal wird eine Jacke zum Maschinengewehr und dann als Handgranate ins Parkett geworfen. Am Ende integriert sich Elsie de Brauw in das Tanzensemble (Bérengère Bodin, Lisi Estaras, Ross McCormack, Elie Tass und Romeu Runa). Und immer wieder fasziniert besonders der schlanke Romeu Runa durch irre Windungen um sein eigenes Skelett, so berührend wie komisch. Das tut – jedenfalls dem Zuschauer – alles nicht weh, ist aber nicht nur unterhaltsam, sondern teils sehr anrührend. Verzerrungen und Abweichungen vom Normalmaß in Tempo von Ton und Bewegung schaffen ein Spielfeld des Außergewöhnlichen; Töne werden umgespult, das Bewegungstempo kunstvoll oder krankhaft verfremdet.
Aus der Müllkippe ist in „Tauberbach“ eine anregende Spielwiese geworden, aus Bach zuweilen ein Tanzmusiker, und gleichzeitig auch ein Bacchus. Die tragischen Töne der gegen Ende im Gesicht schwarz bemalten Protagonistin verflüchtigen sich jedoch im Zusammenspiel mit ihren satyrhaften Begleitern. Und Bach erweist sich als therapeutisch beruhigender Begleiter. Gerade im stillen, langsamen Ende dominiert endgültig der Optimismus. Das Ensemble singt gemeinsam, vorsichtig Bach und schließlich Mozart, verteilt sich wieder auf der Bühne bezieht durch seine ganze Präsenz und Öffnung in den Saal in der Stille das Publikum ein – das bald mit frenetischem Applaus reagiert.