Für sein Paris-Debüt mit Richard Wagners romantischer Schwanenritter-Oper „Lohengrin“ hat er sich gleichsam mit dessen „Parsifal“ in Wien „vorbereitet“. Seine Überschreibung dort machte neugierig, wie er mit der Geschichte der traumseligen Magd und ihren Visionen und dem martialischen Rasseln des Königs mit dem deutschen Schwert umgehen würde. Vor allem, wie er diese Geschichte auf der Bühne (die er auch selbst mitliefert) mit der Gegenwart kurzschließt.
Wagners „Lohengrin“: eine Geschichte von Bruder und Schwester
Die Richtung gibt Serebrennikov bereits im Vorspiel mit einem der für ihn typischen Videos vor. Wir sehen einen gewinnend lächelnden jungen Mann durch einen Wald streifen, der immer wieder von einer Hand berührt wird. Wenn er seine Militärkluft ablegt und für ein kurzes Bad nackt in einen See springt, werden nicht nur die großen Schwanenflügel-Tattoos auf seinem Rücken sichtbar – er bewegt sich auch so anmutig wie ein Schwan. Die traurig hoffnungslosen Blicke am Ende, in Richtung der Person, die die Hand zärtlich nach ihm ausstreckt, stimmen ein, auf das was kommt. Der von seiner Schwester (wer weiss wie sehr..) geliebte, schöne junge Bruder als Rekrut oder Soldat auf Kurzurlaub daheim? Elsa jedenfalls haut die erzwungene Trennung von ihm um, sie ist offenkundig an Seele und Leib erkrankt, ihrer Persönlichkeit gespalten. Die Welt wird ihr zu einem Alptraum, dessen Zumutungen sie sich nur mit eigenen herbeifantasierten Gegenwelten erwehren kann. Wenn sie vor Gericht zitiert wird, erscheint sie bzw. einer ihrer beiden gespaltenen Persönlichkeitsdoubels splitterfasernackt vor dem König und seinen Leuten, so dass die den Blick beschämt abwenden. In den kargen, nebeneinander liegenden Räumen verschieben sich die Wände wie bei Edgar Allen Poe, wenn es für Elsas Verteidigung knapp zu werden scheint.
Sie weiten dann aber den mittleren Raum wieder, wenn der herbei fantasierte Lohengrin erscheint. Begleitet von zwei Schwanenhälften in Gestalt attraktiver Tänzer mit nacktem Oberkörper und je einem Schwanenflügel. Lohengrins Uniform ähnelt der ihres geliebten Bruders. Für sie verschwimmt die Erinnerung an ihn mit der imaginierten Gestalt ihres Retters. Wie im Playback bewegt sie zu manchen von dessen Tröstungen ihre Lippen – so als kämen seine Worte aus ihr. Solche Details erinnern immer wieder daran, dass wir das Ganze konsequent aus der Perspektive Elsas wahrnehmen. Ihr Trauma freilich ist nicht nur das eines individuellen Verlustes – im zweiten Aufzug wird es zum Trauma einer heillos im Krieg versinkenden Gesellschaft.
Im ersten Teil des zweiten Aufzuges singt der durch eine Beinprothese gehandicapte Telramund sein „Erhebe dich Genossin meiner Schmach“ sitzend in Richtung der vor ihm stehenden Ortrud. Das ist aber kein Fehler, denn er singt in Wirklichkeit, die (im Video in der oberen Bühnenhälfte) mit Tabletten ruhig gestellte Elsa an. Serebrennikov gestattet seinem Telramund hier und in einigen weiteren Gesten, die Erinnerung daran, dass er selbst einst um Elsa geworben hatte…
Wuchtige Botschaft
Der Szenenwechsel vom Ehepaar Telramund, und ihren Versuchen als weißbekittelte „Ärzte“ Elsa zu manipulieren, hin zu den aufziehenden Massen leitet in die zentrale Szene der Inszenierung und ihrer Botschaft über. Der werkhallenartige Raum ist dreigeteilt und wird zu einem emotionalen Faustschlag. Gegen jeden Krieg. Links fast durchgängig auf Krieg und Sieg ausgerichtete Soldaten, die von ihren jungen Frauen besucht werden. In der Mitte ein Lazarett mit Verwundeten und Verstümmelten. Auch mit Besucherinnen und mit einem Orden verteilenden König, der seine Anteilnahme natürlich fotografieren lässt. Mit Toten, die nach nebenan in die Leichenhalle getragen werden, deren Kühlfächer längst überfüllt sind. Hier sind von Trauer gebeugte Witwen die Besucher, die nur noch die Bilder ihrer Männer, Söhne oder Brüder dabeihaben. Wenn Elsa eine ganze Weile zögert, ob sie Lohengrin in aller Öffentlichkeit die verbotene Frage nach seiner Identität stellen soll, geschieht in der Leichenhalle Verstörendes – da erheben sich lauter nackte junge Männer aus den Leichensäcken und verlassen den Raum… gehen ins Licht? Verlassen die Traumwirklichkeit?
Im dritten Aufzug gibt es zum Auftakt eine ganze Reihe von schnell inszenierten Kriegshochzeiten. Die Freude des Augenblicks überdeckt kaum die Angst vor dem, was kurz danach mit den Männern passieren könnte. Durchweg liefert Serebrennikov starke, allgemein gültige Bilder, bei denen auch ein Im-Osten-nichts-Neues Verweis auf die Gegenwart mitspielt. Dass der Krieg alles andere als ein Gesundbrunnen in Stahlgewittern ist, und dass die Wenigen, die den Wahnsinn stoppen wollen, keine Chance haben. Einer der Brabanter versucht es immer wieder. Vergeblich.
Hoffnungslos niederschmetternd
Nach der Monsalvat-Erzählung und Ortruds Auftritt vor der Leiche ihres Mannes, präsentiert Lohengrin den „Schützer“ von Brabant, in dem er einen Leichensack öffnet und dem ein junger Mann entsteigt, dessen Haut von Wunden gezeichnet ist. Hier gibt es keine Hoffnung. Nirgends. Im Ganzen funktioniert die Konsequenz, mit der Serebrennikov das ganze aus Elsas Perspektive erzählt. Auch, wenn sie sich am Ende selbst aus ihrer Traumwelt flüchtet. Der Weg ins Leben zurück ist ihr verbaut. Die Erkenntnis, dass Krieg tödlich ist, ist nicht neu, wird aber selten so niederschmetternd klar wie in dieser Produktion.
Musikalisch bietet die Pariser Oper puren Luxus. Das Orchester de l’Opera de Paris ist so wagneraffin und -erfahren wie die Wiener Philharmoniker. Das Ensemble ebenfalls so handverlesen, als wäre es eine Bayreuth-Besetzung. Der hauseigene Chor ist von grandioser Wucht und spielt seine Rolle als manipulierbare Masse auch dann herausragend, wenn er nur als Tableau Vivant fungiert, Lazarettbetten füllt oder an der Rampe aufmarschiert. Hier bringt Masse tatsächlich mal ein Wirkungsplus hervor. Dass der Pole Piotr Beczala einer der besten amtierenden Schwanenritter ist, hat er u.a. in Bayreuth längst klargestellt. Er strahlt in den Höhen ohne jede Mühe, sein Glanz hat Substanz und es gelingt ihm obendrein auch noch in der Gralserzählung, die Taube ganz zart vom Himmel einschweben zu lassen.
Ebenso bewährt und längst erprobt ist Johanni van Ostrum als eine Elsa, die hier auch darstellerisch ungewöhnlich gefordert ist. Traumwandlerisch, mit ihrer Präsenz, sicher in den Höhen und immer noch mit einem genügend jugendfrischen Timbre. Beim dunklen Paar imponiert vor allem Nina Stemme als kraftvoll intrigierende Ortrud mit wohlartikuliertem, sattem Mezzo. Wolfgang Koch ist an ihrer Seite ein im Detail klug akzentuierender Telramund mit einem durchaus melancholischen Anflug. Der kurzfristig eingesprungene Tareq Nazmi ist ein markanter König mit dem Habitus eines modernen, aalglatten Politikers im Anzug und mit der Vorliebe für gute Bilder. Shenyang ist als sein loyaler Heerrufer ein typisches Exemplar von Mensch mit Amt und keiner Meinung.
Was diese Crew und auch die kleineren Rollen bieten ist vokale Spitzenklasse. Alexander Soddy ein Dirigent mit Sinn für die romantischen Bögen und den großen Effekt. Die schiere Größe der Bastille machen sie allesamt zu einem Vorzug für die musikalische Prachtentfaltung. Der Jubel für die Protagonisten war ungeteilt. Für das Regieteam gab es – wagnerüblich – auch ein paar kräftiges Buhs. Leicht benommen geht es danach in die spätsommerliche Nachtluft von Paris.