Foto: Verhandlung auf Berliner Balkon: Valery Tscheplanowa, Stefanie Reinsperger und Aljoscha Stadelmann in Frank Castorfs BE-Inszenierung © Matthias Horn
Text:Michael Laages, am 1. Dezember 2017
Nachts um halb zwei ist die letzte Geschichte zu Ende erzählt – Kommissar Javert, der in Victor Hugos Jahrhundertroman „Les Misérables“ die Hauptfigur, den Ex-Sträfling Jean Valjean, bis zur Selbstzerstörung jagt, hat sich von einer Brücke in die Seine gestürzt. Und so endlos ausufernd Frank Castorf Motive aus dem Roman einmal mehr mit ungezählten anderen gemischt und montiert hat, so abrupt kommt nun dieses Ende – als ließe sich von den „Elenden“ immer noch weiter erzählen; nach siebeneinhalb Stunden im Theater.
Nützt es aber, nun jeden dieser monströs mäandernden Wege und Umwege im Erzähl-Labyrinth des Regisseurs darauf zu überprüfen, ob diese oder jene Wendung nötig oder gar unverzichtbar war? Natürlich nicht. Teil von Frank Castorfs Theater ist ja die unbeweisbare Behauptung, dass eben genau so im Theater erzählt werden kann, wie der Regisseur das nun mal tut. Mit Nützlichkeitserwägungen ist dieser voluminösen Ästhetik nie beizukommen gewesen; und daran hat sich auch jetzt, nach Castorfs erzwungenem Abschied von der Berliner Volksbühne, überhaupt nichts geändert. Im Grunde wirkt der aktuelle Abend ja ohnehin so, als habe der Theatermacher all sein Handwerkszeug und ganz viel technisches Personal, auf das er sich verlassen kann, bei Bühne und Kostüme, Licht und Video, einfach in eine große Kiste gepackt und aus der alten Volksbühne herüber schleppen lassen ins neue „Berliner Ensemble“. Die Bühne selber ist hier kleiner und überschaubarer, die Räume sind enger und die Wege kürzer; aber sonst ist alles wie immer. Die Bühne von Aleksandar Denic etwa dreht sich wie am Rosa-Luxemburg-Platz, und sie ist auch genau so dimensioniert wie dort – also im Grunde viel zu groß fürs kleine BE. Immer dreht sich die Sorge mit, die Höhe der Denic-Konstruktion könnte das obere Portal am Schiffbauerdamm irgendwann wegreißen…
Auf die Fassade einer alten kubanischen Zigarrenfabrik schauen wir. Wieso Kuba? Weil sich Victor Hugo anno 1870 engagiert einsetzte für die Unabhängigkeitsbestrebungen etwa in Mexiko und ebenda, auf Kuba; Hugos große Rede zur Befreiung der Welten erklingt am Ende des ersten Teils wie von einer zerkratzen alten Schellackplatte. Castorf will, dass wir „Les Misérables“ weiter denken: von Paris bis Havanna. Und natürlich hat er mit Heiner Müllers immer wieder zitiertem Klassiker „Der Auftrag“ auch die Klammer oder den Schlüssel zur Hand, der die Französische Revolution kurz vor Hugo vernetzt mit den Revolutionen der Karibik; und mit Fidel Castro, der als Plakat in einer der Spielebenen auf der Denic-Bühne klebt. Gemüseladen und Büro, Hinterhof und Abstellkammer, Treppenhaus und Matratzengruft – alles ist möglich in diesem von Licht und Schatten durchfluteten Haus, und die Video-Kameras erreichen, grell ausgeleuchtet oder im Schummerlicht, den entlegensten Winkel.
Dabei ist Hugos Fabel um den freigelassenen Sträfling Valjean, der es zwar auf rätselhafte Weise bis zum Dorf-Bürgermeister bringt, aber eingeholt wird von der eigenen Biographie, für Castorf nur der Ausgangspunkt, um von Aufruhr und Aufstand über zwei Jahrhunderte hin zu erzählen – selbstverständlich mit praktischer Nutzanwendung für die Gegenwart. Dafür nutzt er jede erdenkliche Zitat-Zutat, etwa einen tatsächlich sehr grandiosen Mono- und Dialog über das unzerstörbare Böse im Menschen, das unaufhaltsam in die Selbstvernichtung treibt; der hoch konzentrierte Oliver Kraushaar und die hinreißende Thelma Buabeng sprechen diese Kostbarkeit weit nach Mitternacht.
Und das mutig gemischte Ensemble folgt Castorf und zeigt uns mögliche Wege durch dieses Labyrinth – allen voran Jürgen Holtz, der greise Doyen der Berliner Theaterszene. Er spricht auch Hugos große Schellack-Rede zur Pause. Bald nach Beginn wird er brillant und berührend zum Inbild christlicher Nächstenliebe, als der Sträfling in die Freiheit gelangt; immer nur den „Bruder“ sieht der alte Bischof im Gegenüber, das er bewirtet. Der Glaubensmann ermöglicht dem Ex-Sträfling gar, ganz viel Tafelsilber zu klauen als Startkapital für den neuen Weg. Wahnsinnig kitschige und wahnsinnig schöne Szenen entstehen da mit Holtz und Andreas Döhler, der vom DT ans BE wechselte und jetzt die erste monströse Herausforderung bewältigt mit Castorf. Den Regisseur übrigens und den alten Holtz, diese Ikone des DDR-Theaters von ganz früher, im Schlussapplaus um halb zwei in Hochachtung vor- und miteinander zu sehen – das ist echtes Glück.
Natürlich wird auch wie wild chargiert, bei Castorf sowieso und wie immer, aber erst recht im Text-Gebirge von „Les Misérables“. Auch „Drei traurige Tiger“, der 1958 entstandene Havana-Roman des kubanischen Autors Guillermo Cabrera Infante wird ja noch eingebaut, zum Beispiel in den völlig rätselhaften und ziemlich unzugänglichen ersten eineinhalb Stunden. Langsam nur gewöhnen wir uns an die Spiel-Profile von Valery Tscheplanowa und Sina Martens, Aljoscha Stadelmann und Patrick Güldenberg, Rocco Mylord und Abdoul Kader Traoré, der mit Thelma Buabeng die „schwarzen“ Stimmen beisteuert im Marathon. Stephanie Reinsperger ist später knallhart präsent mit den mörderischen Müller-Texten, Wolfgang Michael kommt spät als innerlich (und äußerlich) zutiefst zerklüfteter Kommissar ins Spiel. Über sie alle entwickelt sich (wie so oft) ein monströser Castorf-Kosmos, der sich nicht immer schert ums Material, aber immer um die Wirkung.
Erschöpft hängen alle in den Seilen, am Schiffbauerdamm nachts um halb zwei. Wer sich treiben lassen mochte durch dieses Multiversum von Theatergeschichten, wird’s genossen haben. Und nimmt, vielleicht, das eigene Bild vom möglichen Aufstand mit in die Nacht…