Foto: Jonathan Bringert und Mara Sauskat in "Vom Sinn der Sinnlichkeit" © Bettina Stöß
Text:Jens Fischer, am 9. Februar 2020
Digitales Rauschen beflimmert die Tanzfläche, das Publikum sitzt drumherum wie bei einem Modenschau-Laufsteg. Ist einerseits also nah dran, teilweise aber eben auch in der zweiten Sitzreihe verortet, wie der Autor dieser Zeilen, der dank einer solchen Platzierung und hoch- wie breitschultrig gewachsener Vor-einem-Sitzer nur einen Teil der Uraufführung sehen kann, die „Vom Sinn der Sinnlichkeit“ betitelt und von den Tänzern des Staatstheaters Braunschweig unter Anleitung Gregor Zölligs choreographiert wurde.
Wahrnehmbar immerhin zu Beginn, wie das neunköpfige Ensemble mit Ventilator, Drucker, Mikrowelle, Kaffee- und Waschmaschine hantiert, solche Alltagstätigkeiten hektisch und vereinzelt, getrieben und gestresst absolviert, ab und an auch von Lichtbändern zu einer Gruppe zusammengezwängt wird. Nähe, die alle fluchtwillig drängeln lässt. Wenn die Gruppe auseinanderstiebt, dann aber nicht mit einem individuellen Bewegungsvokabular. Die Tänzer paradieren ruckartig unisono wie Roboter: als uniforme Masse Mensch. Die sich schließlich in ein chaotisches Durcheinander auflöst, dazu serviert sind eine wilde Light-Show und Geräusche, die wie durch ein geöffnetes Fenster hereindringen, rhythmisiert und elektronisch verfremdet werden und zu einer formidablen Lärmbelästigung anschwellen (Musik und Video: Laurenz Gemmer und Andreas Völk). Das soll wohl unsere Welt sein. Moderne Zeiten. Auf Effizienz abgerichtetes, computergestütztes Dasein im ständigen Blick auf Displays, Monitore, Bildschirme. Im Fokus der im Kontakte-Overkill bei Dauer-Kommunikation im Digitalen, bei gleichzeitiger Freundschaftsarmut im Analogen das Leben verpassende Mensch, von der umgebenden Technik selbst halb zur Maschine degradiert. Während sich die Welt reduziert auf visuelle und akustische Reize aus dem Internet. Niemand scheint zu wissen, wo das eigene Zentrum ist oder das In-der-Welt-Sein einen Anker hat. Verlust von Substanz und Sinnlichkeit.
Und nun?
Die Bühne wird dunkel, die Klanginstallation verstummt. Tänzer flüstern. Wollen Schluss machen mit der behaupteten Körpervergessenheit unserer Zeit. Ihr Leib ist vielleicht kein Auslaufmodell, sondern künstlerisches Medium und Instrument der Befreiung. Ort des Natürlichen. So die pathetische Behauptung. Nach dem dramaturgisch noch überzeugenden Beginn, sind nun von meinem Platz aus aber nur noch Szenenfetzen zu sehen, die arg redundant wirken. Das Ensemble setzt unterleibsbetonend auf sinnliche, durchaus erotisch gemeinte Motionen. Immer wieder treffen sich zwei Tänzer zum Pas de deux, entdecken, erkunden, streiten sich, verfallen in Machtspiele, stoßen sich weg, um dann doch einander in aller Geilheit anzuspringen. Was für ein akrobatisches Anschmiegen, Kuscheln, Herumzärteln. Küssen und lecken. Sich ineinander verknoten. Alle wollen irgendwie zurück auf Anfang. Äpfel werden gereicht, Stichwort: paradiesischer Neubeginn des Mensch- und Paarseins. Die mit klassischem Vokabular gespickten Tänze vermitteln wohl auch den Wunsch: zurück zum Ballett. Amphibisch kriechende oder den Kopf in Wasser steckende Tänzer verweisen auf die Volte rückwärts in der Evolution des Lebens. Weswegen sich alle die Ohren zuhalten und dem dann tosenden Meeresrauschen lauschen. Damit und „mit der wellenartigen Bewegung in uns, werden wir eins mit der Natur, mit der Gemeinschaft, der Erde, dem Universum und mit uns“, so die Erklärung auf dem Programmzettel. Das ist natürlich esoterischer Unsinn. Die Sehnsucht nach mehr Sinnlichkeit, also dem Nutzen aller Sinne, um die im digitalen Rauschen verkümmerte Physis zu sich selbst zu befreien, konnte aber durchaus vermittelt werden.