Das Ensemble im Cyber-Urwald

Paradies 2.0

Peer Ripberger: 1968: Geschichte kann man schon machen, aber so wie jetzt ist’s halt scheiße

Theater:Theater Augsburg, Premiere:10.03.2018 (UA)Regie:Peer Ripberger

Die Rückerinnerung an das Aufbruchsjahr 1968 gebiert in Augsburg eine absurd-poetische Zukunftsvision

Allenthalben ist zum 50-jährigen Jubiläum das bundesdeutsche „Revolutionsjahr“ Thema in TV, Zeitung – und auf dem Theater. Die Münchner Kammerspiele luden im Februar für „1968. Eine Besetzung der Kammerspiele“ sieben freie Theaterkollektive ein und bezogen sich nicht zuletzt auf den Skandal nach der Uraufführung von „Viet nam Diskurs“ von Peter Weiss seinerzeit, als Geld für die Bewaffnung der Vietcong gesammelt wurde. Vietnam kommt in Peer Ripbergers Collage nicht vor, aber sie bezieht sich zumindest am Rande auf das, was Jugend 1968 in Augsburg bewegte.

Im ersten Teil auf nackter Bühne reden sich drei Schauspieler und drei Schauspielerinnen (davon eine, Annika Ullmann, die stumm als Souffleuse mit einem Stapel Papier am WG-Tisch dabeisitzt!) im Tempo von Schnellfeuer-Gewehren die Köpfe heiß, geben auch schon mal chorisch – und in bester Brecht‘scher Verfremdung – zu bedenken, dass dieses Gerede auf einer Theaterbühne eigentlich überhaupt nicht politisch und sowieso für die Katz‘ sei, die besten zehn Minuten der Veranstaltung aber die waren, als das Publikum seine Plätze suchte und so zeigte, wie Gesellschaft funktioniert.

Unisex in schwarze Männer-Hemden, Männer-Hosen und weiße Turnschuhe gekleidet, machen die Fünf freilich munter weiter, qualmen die Bude voll und amüsieren das Publikum herzlich mit immer wiederkehrenden Thesen, etwa zu prekärer Abfallwirtschaft und den Frauenrechten. Was da 50 Jahre alte Texte sind oder zeitgenössische Reflexion, die Ripberger aus Dutzenden Texten kompiliert und collagiert hat, wird nicht immer deutlich, muss es auch nicht. Immer neu und immer ein wenig anders werden chorisch „vorläufige Vorschläge für eine Kulturrevolution“ formuliert und skandiert, darunter die Forderungen: „Jeder soll, ohne Schuldgefühl, sich durch seine Begeisterung beflügeln lassen, um den Sinn für das Menschliche wiederzuerlernen“ oder „Jeder, der Angst bekommt vor dem ‚Abenteuer‘, das heißt, vor dem Neuen, soll wissen, dass er nur Angst vor der Veränderung hat.“ Und immer wieder steht am Ende der flammende Aufruf: „Alle Macht der Phantasie!“

Mit ihm endet auch das Intermezzo in der Pause, wenn das Spektakel vor dem Theater weitergeht und die Schauspieler die Zuschauer mitnehmen auf einen freien Platz zwischen Häusern hinter ihm. Dort formulieren sie die verschiedensten Träume, fordern aber auch das Publikum auf, ihnen mit dem Megaphon zu folgen. Einige machen es und immer wieder gibt es fröhlich zustimmenden Beifall, etwa wenn ein Schauspieler formuliert: „Ich habe einen Traum, dass wann immer und wo immer es ein erregtes Anhängsel und eine willige Öffnung gibt, öffentlich Unzucht getrieben wird. Penetrierbare Löcher und penetrierende Gliedmaßen everywhere!“ Da meldet sich auch ein bulliger Typ „mit Migrations-Hintergrund“ aus einem Fenster im zweiten Stock zu Wort und lässt als Traum ausrichten, die AfD möge doch bald wieder aus dem Bundestag verschwinden!

Danach kann man sein Glas im engen Foyer der brechtbühne austrinken, denn nun verwandelt sich drinnen die Bühne in einen penetrant nach künstlichen Aromen riechenden (Plastik-)Urwald, während die Schauspieler ihr existentialistisches Schwarz mit weißer, futuristisch schaumstoff-gepanzerter Kleidung vertauschen (Bühne und Kostüme: Raissa Kankelfitz). Da tragen die Männer schon mal ein züchtiges „Kleines Weißes“ und aufgemalten schwarzen Bart oder gehen schulterfrei mit schick ondulierter, hoch aufgesteckter Blondhaar-Perücke und haben aneinander offenbar mehr Interesse und Spaß als an den Frauen, die leider auch gerade asexuell aussehen. Keiner spricht mehr. Man vergnügt sich tumb lächelnd eine Gurke schälend, Salat schneidend, Basilikum liebkosend oder schreitet bedeutungsvoll und wie unter Drogen stehend zwischen den Pflanzen. Derweilen redet sich eine gute halbe Stunde lang eine Frauenstimme (Natalie Hünig) vom Band den Mund fusselig. Es ist die Erdgöttin Gaia, die sich vorstellte mit: „Ich bin eine überragende Cyborg. Ich bin verrückte Göttin, Planet, Trickster, alte Frau und Großtechnologie zugleich. Ich bin eine ironische Utopie politischer Identität, ein Projekt, in dem probeweise Menschen, Tiere, Pflanzen und Maschinen kommunizieren, um auch die subtilste Form von Herrschaft bloßzulegen: Herrschaft über Frauen, Natur, Arbeiter, Tiere, kurz: Herrschaft über alles Andere. Ich bin die semi-künstliche Intelligenz, die dem Leben ein Gewissen gibt.“

Fortan faselt sie über die Aufhebung der Geschlechtertrennung und den multiplen Einsatz von Testosteron und Östrogen, über das Glück, dass Drogen in jeglicher Form legalisiert sind und endlich eine nachhaltige Landwirtschaft dank ökologisch denkender „Waldgärtner“ die Welt befriedet und befriedigt; aber auch darüber, dass Männer schwanger werden können und jedes Kind mindestens drei Elternteile hat. Vieles davon stammt von Donna Haraway („Ein Manifest für Cyborgs“) und endlich wird auch die inmitten all des hässlichen Grünzeugs dominierende historische Badewanne benutzt: Patrick Rupar und Sebastian Baumgart entledigen sich aller Kleider und vergnügen sich wie Gott sie geschaffen hat schaumgekrönt und aufeinandersitzend beim zärtlichen Cybersex in der Wanne, gefolgt von Roman Pertl, dem das Genital zwischen den Beinen vermeintlich abhanden gekommen ist, sowie als Letzte Katharina Rehn und Marlene Hoffmann. Zusammen ergeben sie schließlich eine wunderschöne Nackt-Körper-Skulptur.

Was da Autor und Regisseur Peer Ripberger entwirft, ist freilich kein Paradies und keine schöne Utopie, sondern eine seltsam aseptische Welt ohne Sprache, ohne Konflikte, ohne Sinnlichkeit, die einen schlicht gruselt, amüsiert oder auch empört, wie zwei offensichtlich weiße, heterosexuelle Herren im Publikum, die nackte und auch noch schamrasierte Männer, die einander gefallen und gefällig sind, nicht ertragen können und protestierend und Türen knallend den Saal verlassen. Von allen anderen: tosender Beifall für einen ironischen Doppelabend, der zwar den Finger auf so manche Wunden legt, die sich ein halbes Jahrhundert nicht geschlossen haben und immer noch schmerzen, aber auch irgendwie zahnlos und leider wenig scharf und provozierend ist, den exzellenten Schauspielern zum Trotz, die nicht nur Text aufsagen, sondern Figuren formen aus Fleisch und Blut im ersten oder wunderbare Cyber-Karikaturen im zweiten Teil!