Foto: Thorsten Loeb, Béla Milan Uhrlau und Konrad Mutschler in ihren immobilen Korsetten © B. Weber, L. Moroff
Text:Björn Hayer, am 19. Juni 2020
Man sagt ihnen, sie befänden sich in „immerwährenden Ferien“, man sagt ihnen, es sei besser, wenn sie in der Klinik in den Bergen, weitab vom Grunde des Tals, blieben, man sagt ihnen, sie könnten nur dort endlich Gewicht verlieren. Denn sie sind dick, phänomenal adipös, weswegen Matthias Rippert, der Regisseur des Stücks „Seymour. Der Film“, seine Schauspieler in übergroße, tortenartige Gebilde steckt. Wir haben es mit sitzenden Kolossen (gespielt von Béla Milan Uhrlau, Konrad Mutschler, Thorsten Loeb, Stefan Schuster, Gabriele Drechsel und Antonia Wolf) zu tun, die mal eine Schale mit Erbsen halten, mal sich gegenseitig die Hände auf den Arm legen. Was sich innerhalb dieser immobilen Korsette bewegt, sind nur die Köpfe der Akteure. Gezeigt wird ihr Alltag, bestehend aus Erbsenessen und Training, nächtlichen Kuchengelüsten und Haarekämmen. Mögen sie sich optisch von den meisten Teenagern unterscheiden, eint sie mit ihnen die jugendlichen Sehnsüchte nach Nähe, Liebe und Zweisamkeit. Derweil warten sie auf ihren Guru und Erlöser Dr. Bärfuß, der – ein Beckettscher Coup – nie kommen wird.
Was wir erleben, versteht sich als eine Parabel auf die existenzielle Einsamkeit des Menschen. Und wann sonst könnte ein solches Gleichnis wohl besser nachvollzogen werden als in Zeiten von Corona? Dass das Virus auch im Staatstheater Darmstadt präsent ist, spürt man nicht nur an den strengen Hygieneregeln und weiten Abständen in den Sitzreihen des kleinen Hauses, sondern gleichsam am Format der Inszenierung selbst. Statt Anne Leppers „Seymour“ als gewöhnliches Bühnenstück aufzuführen, hat sich der Regisseur für eine filmische Realisierung entschieden.
Somit gelten auch andere ästhetische Gesetzmäßigkeiten: Der Blick des Zuschauers wird gelenkt durch Schnitte und Fokus. Mehr als im klassischen Arrangement nehmen wir in den zahlreichen Nahaufnahmen der Gesichter mimische Aspekte wahr. Wenn wir beispielsweise immer wieder kauende Münder beobachten, kommt dadurch gerade die groteske Dimension des Werks zum Ausdruck, das sich mithin auch als eine Farce auf die spätmoderne Gesellschaft zu erkennen gibt. Mantraartig vorgebrachte Sätze wie „Man muss unter allen Umständen richtig aussehen“ oder „Was fehlerhaft ist, muss ersetzt werden“ zeugen von der Perversion eines allumfassenden Optimierungs- und Schönheitswahns. Ihm können sich die jungen Patienten bis zuletzt nicht entziehen. Via Münztelefon, der letzten Verbindung zur Außenwelt, erfahren sie von ihren Eltern, dass sie zuhause nicht erwünscht sind.
Obgleich das Stück mit seinen teils an Sitcoms erinnernden Dialoge, seiner Handlungsarmut und den statischen Figuren schon früh in einen Leerlauf mündet, hat es seinen Reiz. Mit unterschiedlichsten Mitteln – vom Zoom bis zur Zeitlupe und Kamerafahrt – erlaubt der Film eine tiefe Introspektion in die fatale Situation der Protagonisten. Anschaulich lernen wir daher die Psychologie der Ausgrenzung kennen. Das Staatstheater Darmstadt kann also Cinema, mit beachtlich tragikomischem Gehalt.