Foto: Caroline Nkwe, Chor des Theater Lübeck © Olaf Malzahn
Text:Detlef Bielefeld, am 7. März 2020
Durch Not erzwungene Emigration, unüberwindliche Hindernisse der Migranten in den Ländern ihrer Träume – da sind seit Völkerwanderungszeiten virulente Probleme und schmerzlichen Reibungspunkte zwischen unterschiedlichen Kulturen, die bis heute keine befriedigende Lösungen gefunden haben.
Ein Künstlerkollektiv rund um den Komponisten Richard van Schoor, den Librettisten Thomas Goerge, Regisseur und Videokünstler Lionel Poutaire Somé sowie den Ausstatter Daniel Angermayr haben sich nun dieses zur Zeit wieder hochaktuellen Themas angenommen und am Theater Lübeck als „Kino-Oper“ namens „L‘Européenne” zu einem veritablen Premierenerfolg geformt.
Liebe zwischen afrikanischem Emigrant und Europäerin
Es geht um die junge deutsche Entwicklungshelferin Lena, die auf einer dieser gruseligen Elektromülldeponien Afrikas den dort schuftenden Bouba kennen- und lieben lernt. Sie glaubt, dass Afrika ein „guter Ort“ sei, und misst dort die Giftstoffbelastung der kontaminierten Böden – den in seiner Heimat eigentlich festverwurzelten Bouba zieht es derweil magisch nach Europa. Das Massengrab Mittelmeer, die Warnungen seiner Landleute schrecken ihn nicht – die Realitäten des Zielortes Europa sind allerdings eine jede Illusion zerstörende Internierung und der Absturz in die Illegalität. Träume von einem besseren Leben gerinnen ebenso wie die Liebe zwischen zwei Welten: Unübersehbar mahnt und schreckt am Ende das berühmte Dante-Zitat: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.“
„Kino-Oper“ zwischen Kantabilität und knackiger Plastizität
Richard van Schoor arbeitet mit einer Kombination aus filmischen Mitteln (Dokumentationen der Flüchtlingsrealitäten) und einer illustrativen Musiksprache, die kantable Momente mit knackiger Multitonalität, afrikanischen Musikzitaten und naturalistischen Geräuscheinschüben verbindet, was insgesamt den starken visuellen Eindrücken erschütternde auditive Plastizität verleiht. Andreas Wolf am Pult seiner Philharmoniker setzt diese zum entsetzlichen Bühnengeschehen kongruente Klangwelt souverän um, assistiert vom einmal mehr perfekt einstudierten Chor (Jan-Michael Krüger), dessen multipler Part die emotionalen Schichten des fatalen Geschehens freilegt. Dazu eine abstrahierte, minimalisierte Bühne, hinter der auf einer Leinwand die Flüchtlingsrealitäten schockierend-eindeutlich für Beklemmung sorgen. Keine Überhöhung, keinerlei Idealisierung – schonungslose Tatsachenbeschreibung, die unter die Haut geht!
Multikulturelle Protagnoisten tragen diese verstörend-eindringliche Produktion:
Die blonde Emma McNairy als zwischen Liebe, Naivität und letaler Verstörung schwankende Lena, die sich in ihren Träumen von Liebe und besserer Welt grausam betrogen sieht – eine darstellerisch intensive, stimmlich anrührende Rollengestaltung, die nebenbei die Hilflosigkeit der westlichen Welt im Ansicht diese humanitären Gaus erfahrbar macht. Der Südafrikaner Owen Metsileng als unerschütterlicher Optimist Bouba mit prachtvoller Kantabilität, der aber auch seinen zähen (letztlich vergeblichen) Kampf um ein besseres Morgen zwischen Tatkraft und Resignation erfahrbar machte – sein Performer-Double Abdoul Kader Traoré präsentierte die andere Seite dieses Antihelden: zerfahren, zerrissen, von den Realitäten erdrückt. Daneben ein kleines, treffliches Sängersensemble in ständig wechselnden Rollen, in dem die junge, erfreulich textverständliche Caroline Nkwe und die souveränen Herren Youngkug Jin sowie Steffen Kubach starke Akzente zu setzen wussten.
Ein beachtlicher Premierenerfolg, wobei die wirklichen Adressaten dieser theatralisierten Gesellschaftsanklage natürlich gar nicht im Theater saßen. Bleibt also zu hoffen, dass diese packende Politoper möglichst schnell den Weg auf andere Bühnen in Europa finden möge!