Foto: "La Boheme" am Staatstheater Nürnberg © Jutta Missbach
Text:Dieter Stoll, am 23. November 2015
Zum Einstieg in diese Nürnberger Neuinszenierung eines Werkes, das eigentlich als resistent gegen Regie-Zugriffe aller Art gilt und womöglich grade deshalb auf so stabile Popularität bauen kann, wird dem Zuschauer der neue Blick angekündigt. Im Programmheft entwerfen die als Ausnahme-Talente gehandelten Ungarinnen Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka (immer gemeinsam verantwortlich für Spielleitung und Ausstattung) ihren verblüffenden Interpretationsansatz vom geradezu wagnerianischen Opfertod der lebensklugen Mimi, der für die abgehobenen Künstler den Weg in die Wirklichkeit öffne. Auf der Bühne führt das zunächst zur Installierung eines tonlosen Prologs. Die Szenen-Schwarzblende öffnet weit oben ein winziges Arm-aber-reinlich-Kämmerlein, wo sich ein stickendes Mädchen seufzend in den Finger sticht (nein, Dornröschen ist es nicht), und dann im zweiten Arbeitsgang erst weit unten den größeren Raum für die angemessen schlampige Anarchisten-WG der Dichter, Denker und Maler. Dort irritierte es ja in ungezählten Aufführungen, wenn der frierende Poet aus lauter Armut sein Roman-Manuskript verfeuerte, doch das erklären die beiden Regie-Frauen nun geduldig als Ausdruck eines revolutionären Kunst-Stils: „Vernichten ist das neue Schaffen“. Sie tun es natürlich im gedruckten Interview, denn szenisch ist der Unterschied zu sonstigen Solisten-Rundläufen am Heizkörper nicht recht erkennbar. Womit das Kernproblem der Aufführung, aber auch ihr Erfolg beim Premierenpublikum bereits hinreichend erklärt wäre.
Mimi aus der Mansarde geht jedenfalls dem Schreibmaschinenklappern nach und baggert bei Kerzenlicht den schmucken Nihilisten Rodolfo an. Kleiner Ohnmachtsanfall effektvoll gleich an der Tür, dann Koketterie mit den kalten Händchen. Alsbald wird es ein Duett in Rückenlage geben. Was die in jeder Hinsicht leicht entflammbaren Herren nicht ahnen, kann der vorbereitete Zuschauer, wenn er mag, an der Hauptfigur entschlüsseln: Die Sopranistin Hrachuhí Bassénz spielt und singt (in Klang und Blick immer etwas verhangen) die meistbeweinte Puccini-Schmerzensfrau nach dem vorgelegten Psycho-Schnittmuster als Gegenpol mit Missionsauftrag, fast schon wie ein Wesen aus anderen Welten. Ein mütterlicher Erlösungs-Engel geht hustend durchs unaufgeräumte Zimmer, das Melodram wie eine Monstranz durch den Abend tragend. Mit ihrer Patenschaft ringt die Aufführung um die Beglaubigung als Requiem.
Die Inszenierung unterfüttert das anspruchsvolle Konzept mit Symbol-Ornamentik und Verschärfung von Details. Wenn das Liebespaar den brüchigen Schutz der eigenen Traumwelt erstmals gemeinsam verlässt, zerreißt es buchstäblich die Mauer (Dampf und feuriges Höllen-Licht dringen durch die Spalten) und das profane Gewimmel auf dem Platz empfängt sie wie eine Zombie-Party. Dort führt Erotik-Facharbeiterin Musetta, wenn sie nicht im Cabaret gegenüber an der Stange tanzt oder nach alter Maxim-Sitte die Herren gruppenweise dahinsinken lässt, ihren reichen Galan mit Hundeleine aus. Auch für Vitamine ist gesorgt, uniformierte Soldaten verteilen Bananen an die hungrige Bevölkerung. Das Künstler-Kollektiv kehrt gestärkt ins Studio zurück, die Herren klettern im spartenübergreifenden Malerkittel über die nächste Reizschwelle zum Happening mit Miet-Modell. Es wird fast eine Vergewaltigung, soll aber (Programmheft!) auch Sinnbild für die innere „krankheitsbedingte Zerstörung“ der todgeweihten Mimi sein.
Letztlich inszenieren Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka, wie sie die Figuren so durch ihre Bühnenästhetik aus surrealen und naturalistischen Verbrüderungen geleiten, ganz pragmatisch. Wenn Mimi den Rodolfo aus den Begrenzungen der Kulissen-Kunstwelt nach vorne an die freie Rampe lockt, kommt ihm das bei der nächsten Arie sehr zugute. Der junge Ilker Arcayürek, vorweg als Entdeckung gehypt, bringt eine sehr leichtgewichtige Stimme ein, die im Ensemble untergeht, um an den entscheidenden Stellen spektakulär aufzutauchen. Dramatik erreicht er dann in höchster Konzentration, wobei man dem erstaunlichen Prozess zuschauen kann, wie er sich bei der Rolle im entscheidenden Moment ausklinkt und nur noch Konzert-Tenor ist. Der Marcello von Levent Bakirci, ein kerniger Bariton mit Vitalitäts-Schüben, ist das persönliche Kontrastprogramm. Das Vielseitigkeits-Phänomen Michaela Maria Mayer (sie sang in Nürnberg in den letzten Jahren „Meistersinger“-Evchen, „Rößl“-Wirtin und „Figaro“-Susanna in dieser Reihenfolge) bleibt der schlagfertigen Musetta keine Töne, aber schillernde Frivolität schuldig, ist tatsächlich der Eisschrank, als der sie von ihrem für alle Krisen bereitstehenden Freund beschimpft wird. Das große Opernhaus-Ensemble samt Chor und Kinderchor liefert solide Arbeit.
Dirigent Gábor Káli nimmt die Impulse des Regie-Duetts interessiert zur Kenntnis. Er lässt sich auf die Elegie als Grundprinzip ein, entwickelt freilich mit dem Orchester der Staatsphilharmonie im ersten Teil eine eigene, in sich geschlossene Soundtrack-Spur, die alle Sänger in den Hintergrund drängt. Für den flinken Witz, der anfangs wie beiläufig durch Puccinis Partitur blinkert (mehr als Kopftücher für Herren und ein neu erfundenes zänkisches Eheweib des Hausvermieters ist der Inszenierung dazu auch nicht eingefallen), hat er weniger Sinn als für die schimmernde Hochglanz-Melancholie. Sie ist in vielen Schattierungen ausgeleuchtet, fasziniert zunehmend in ihrer konsequenten Umsetzung, die sich sachte von den Regie-Behauptungen emanzipiert. Am Ende, dem gekonnt effektvoll arrangierten Sterben, wird nochmal die leere Kammer der Heldin gezeigt als wäre es ein Tabernakel – und die Musik knallt wütend ihren finalen Schmerz dazu. Der neue Blick ist da längst in der Tränenseligkeit des alten verschwunden.
Viel Beifall, kaum Widerspruch. Die Oper „La Bohème“ bleibt unbeeindruckt so wie sie ist.