Foto: Veronika Lee in "DIe Frau aus dem Eis" am Theater Bielefeld © Sarah Jonek
Text:Michael Kaminski, am 16. April 2023
Das immer wieder totgesagte Ideendrama gelangt in Gestalt der 2019 in Glasgow uraufgeführten Oper des schottischen Komponisten Stuart MacRae und seiner seit Langem in Schottland lebenden Librettistin Louise Welsh packend zurück auf die Bühne. Der nun am Theater Bielefeld zur deutschen Erstaufführung gelangende Dreiakter fordert gar das Menschenopfer.
Denn um das Forschungsschiff „Anthropocene“ aus dem Packeis zu befreien, muss ein Mitglied der Expedition sterben. Dies verkündet den Forschenden und Seeleuten jene von einem Wissenschaftler aus dem Eis befreite und zu neuem Leben erwachte Frau, die einst selbst von den Ihren zur Beschwichtigung der Naturgewalten getötet worden war, damit ihr Stamm der Polarwüste entrinnen durfte. Indessen bedeutet der aktuelle Kälteeinbruch ein Aufbäumen der geschundenen Erde gegen den Klimawandel. Der Verzicht auf Rettung, das Selbstopfer aller Expeditionsteilnehmenden, könnte ihn aufhalten. Doch erschießt die wissenschaftliche Leiterin einen die Forschungsfahrt begleitenden Journalisten. Tauwetter setzt ein.
Dramaturgische Schachpartie
Was zunächst reichlich konstruiert daherzukommen scheint, fesselt durch zwingende Figurenkonstellationen und packende Situationen. Librettistin Welsh ist Autorin auflagenstarker Psychothriller. Sie weiß Konflikte zu motivieren, zu schüren und auf die Spitze zu manövrieren. Wie die Expeditionsmitglieder ihr jeweils eigenes Spiel treiben, wie sich im Gegensatz dazu die Frau aus dem Eis verloren und in völliger Unschuld unter Menschen bewegt, die einander Wölfe sind, greift tief ins Gemüt.
Komponist MacRae taucht die Atmosphäre in den orchestralen Thrill von knirschenden und gegen die Schiffswände drückenden Eismassen und Sturmestosen. Doch versteht er sich ebenso auf berückende Phasen vokalen Innehaltens. Dem Seemann Vasco gönnt er Kantilenen, die Benjamin Britten ersonnen haben könnte. Magisch das Duett der beiden Sopranistinnen, in dem Expeditionsleiterin Prentice und die Frau aus dem Eis auf der Linie purer vokaler Schönheit einander zu begegnen suchen.
Aufwühlende Bilder
Regisseurin Maaike van Langen setzt auf Optik: Die Eiseskälte der Polarregion lässt das Geschehen immer wieder zu Tableaus gefrieren. Oft entstehen daraus Gemälde von polarer Schönheit. Überzeugend führt van Langen die Titelfigur aus einer völlig anderen Welt auf das Forschungsschiff. Verloren wandelt sie über dessen Planken. Für alles dies ersinnt Anna Schöttl ein Schiffsdeck vor ragender Eiswand. Schöttls dick gepolsterte Kostüme deuten Futuristisches an, während die Titelfigur in einer Art Brautkleid steckt.
Orchester samt Sängerinnen und Sängern plädieren überzeugend für MacRaes Partitur. Mit den Bielefelder Philharmonikern lässt Gregor Rot den spannungsintensiven Thrill der Naturbilder aus dem Graben steigen. Veronika Lee in der Titelrolle geht ihre vokal in Stratosphärenregionen siedelnde Partie berührend lyrisch an. Expeditionsleiterin Prentice bewegt sich bei Cornelie Isenbürger stimmlich geraderaus. Den Journalisten Miles gibt Todd Boyce als weit und durchschlagskräftig ausholender Bariton-Fiesling. Andrei Skliarenko schmiegt sich tenoral in den Matrosen Vasco hinein. Auch alle weiteren Solistinnen und Solisten tragen zur geschlossenen Ensembleleistung bei.