Foto: Carmen: Kunstfigur oder Frau aus Fleisch und Blut? Mariselle Martínez in Nadja Loschkys Heidelberger Inszenierung. © Klaus Fröhlich
Text:Detlef Brandenburg, am 30. Januar 2012
Wer ist Carmen? Eine Frau aus Fleisch und Blut? Ein Mythos, der seit dem Erscheinen von Prosper Mérimées Novelle durch die Köpfe der Männer geistert? Oder eine Kunstfigur, die eigentlich in einen Bilderrahmen gehört? Nadja Loschky, begabte Nachwuchsregisseurin des Jahrgangs 1983, scheint das Letztere anzunehmen. Jedenfalls hat sie sich von der Bühnen- und Kostümbildnerin Gabriele Jaenecke eine verschachtelte Architektur aus lauter Bilderrahmen auf die Bühne des Heidelberger Opernzeltes bauen lassen, in denen das Personal von Bizets Opernspanien nach Herzenslust posieren darf. Und sie hat in Gestalt eines „El soñante“ genannten Räsoneurs einen leibhaftigen Doppelpunkt vor die Handlung gesetzt: einen Schauspieler, der anstelle der originalen Dialoge Texte von Buñuel, Lorca oder Dalí spricht (auf Deutsch, gesungen wird französisch). Sie handeln von verkorksten Liebesbeziehungen, und wenn dieser Träumer mit den Figuren interagiert, scheint es fast, als assoziiere er zur Opernhandlung seine eigene Geschichte mit einer Carmen.
Aber es gelingt der Regisseurin nicht, mit dieser Mittlerfigur (die übrigens ein Vorbild bereits in Mérimées Erzähler hat) eine eigene, prägende Perspektive auf die Handlung zu etablieren. Es hätte ja beispielsweise nahegelegen, aus den Texten auch eine eigene Bildwelt zu entwickeln, der spanische Surrealismus hätte da einen reichen Motivfundus geboten. Doch in den Bilderrahmen sehen wir die üblichen Carmen-Klischees mit Flamenco-Frauen in roten Rüschenkleidern, Soldaten in grauen Uniformen oder Schmugglern in Räuberzivil. So aber entwickelt die Handlung über weite Strecken ihr konventionelles Eigenleben – auf bemerkenswert vitale Weise. Die Carmen der Mariselle Martínez ist wahrlich eine blutvolle Heldin, der Escamillo von James Homann ein Torero, wie er im Buche steht, Haupt- und Nebenfiguren werden von der Regisseurin sehr profiliert geführt. Nur will sich das kaum mit den lyrischen Texten verbinden, die der Schauspieler Jan Schreiber rezitiert. Dem konzeptionellen Doppelpunkt, den sich Nadja Loschky geschaffen hat, folgt keine passende Geschichte. So aber erscheint er wie eine wohlfeile Legitimation, um unter dieser Lizenz doch wieder zum Altbekannten zurückzukehren.
Auch der Dirigent Dietger Holm entgeht den Klischees nicht – er bläst sie vielmehr expressiv auf, indem er Tempo, Lautstärke und musikalischen Duktus ins Extrem treibt. Das klingt teils – abgesehen von einigen rhythmischen Wackeleien – sogar ausgesprochen schön oder dramatisch hochgespannt, aber zu sehr nach großer Oper, wo es Bizet, dem Stil der Opéra comique folgend, eher auf elegante Leichtfüßigkeit, tändelnde Beiläufigkeit, lakonische Zuspitzung anlegt. Auch Mariselle Martínez trägt gern dick auf, ihr farbenreicher, vollklingender Mezzo wirkt dann outriert, effektverliebt, dabei nicht immer klar konturiert. Sogar die leuchtend perlende Hye-Sung Na forciert als Micaëla bisweilen über Gebühr. Angus Wood ist ein José mit viel italienischem Schmelz und heldischer Stabilität, das französisch-Geschmeidige liegt ihm weniger; James Homann gibt einen dunkel-virilen Escamillo mit etwas hohler Tiefe, die Nebenfiguren im großen Ensemble sind rollendeckend besetzt, der von Jan Schweiger einstudierte Chor ist mit bemerkenswerter Prägnanz bei der Sache. Man hört musikalisch und sieht szenisch viel Eindrucksvolles. Zu einer zwingenden „Carmen“-Interpretation aber will sich weder das eine noch das andere fügen.