Foto: © Wilfried Hösl
Text:Tobias Hell, am 10. Juli 2024
Bei der Premiere von Debussys „Pelléas et Mélisande“ bei den Münchner Opernfestspielen überzeugt nicht zuletzt das Ensemble. Die Tragödie gewinnt mit der Regie von Jetske Mijnssen klare neue Intentionen entgegen der Tradition, die im Orchestergraben durch Hannu Lintu vervollständigt werden.
„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.“ So beginnt Tolstoj seine „Anna Karenina“. Und der berühmte Satz spukt einem unweigerlich auch im Münchner Prinzregententheater immer wieder unweigerlich durch den Kopf, wo Regisseurin Jetske Mijnssen ihre Sicht auf Debussys „Pelléas et Mélisande“ vorstellt. Es ist ein düsteres Kammerspiel, das hier als zweite Premiere der diesjährigen Münchner Opernfestspiele über die Bühne geht und die in der Musik so schillernd gemalten Natureindrücke konsequent ignoriert. Kein Wald, kein Park mit Meeresblick, keine Felsengrotte. Stattdessen ein herrschaftliches Anwesen mit dunklem Parkettfußboden und wenigen schlichten Möbelstücken, die das Geschehen in der Entstehungszeit der Oper um 1900 herum verorten. Wobei Ausstatter Ben Baur Hand in Hand mit Lichtdesigner Bernd Purkrabek für eine im Laufe des Stücks immer beklemmender werdende Atmosphäre sorgt und die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit bewusst diffus gehalten werden.
Die erste Begegnung zwischen Mélisande und ihrem künftigen Ehemann Golaud erlebt man hier nicht in der Einsamkeit des Waldes, sondern in der Anonymität eines großen Balls, bei dem nicht nur die junge Frau ihren Tanzpartner verliert. Auch Golaud ist hier fehl am Platz. Ebenso allein und berührungsempfindlich wie sie, wodurch diese verwandten Seelen schnell eine Verbindung zueinander aufbauen. Dass sich später ausgerechnet der eigene Bruder als potenzieller Rivale erweist, macht die Sache nicht besser und treibt Golaud in einen immer stärker zu Tage tretenden Verfolgungswahn. Und so intensiv, wie Christian Gerhaher sich hier mit seinem kraftvoll auftrumpfenden Bariton in seine Eifersuchtsfantasien hineinsteigert, wird er zum heimlichen Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Der Wechsel vom Pelléas zurück in sein angestammtes Fach erwies sich hier als goldrichtig. Zumal der jüngere Bruder bei Tenor Ben Bliss ebenfalls bestens aufgehoben ist. Selbst wenn man sich von ihm hin und wieder etwas mehr Prägnanz in der Artikulation gewünscht hätte.
Starke Besetzung
Jede Silbe sitzt dagegen bei Sophie Koch, die als Geneviève empathisch ihre Schwiegertochter umsorgt und auch bei den von der Regie hinzuerfundenen Begegnungen im stummen Spiel Präsenz zeigt. Koch bildet so das nötige Gegengewicht zu Franz-Josef Seligs König Arkel, der seine Autorität mit machtvoll ausladendem Bass behauptet und dafür vom Publikum am Ende lautstark gefeiert wird. Ähnlich wie natürlich auch Felix Hofbauer von den Tölzer Knaben, der sich als Yniold mit einer starken Darbietung selbstbewusst neben den gestandenen Opernstars behauptet.
Das Ensemble von „Pelléas et Mélisande“ am prunkvoll gedeckten Tisch. Foto: Wilfried Hösl
Die Sympathien der Regisseurin gehören dennoch ganz Mélisande, die sie aus ihrem traditionell eher passiven Dasein erlöst. Der Ehering rutscht da nicht unachtsam von der Hand, sondern wird in vollem Bewusstsein im Wasser versenkt. Sabine Devieilhe erweist sich hier als geradezu ideale Besetzung, die mit klar geführtem Sopran die jugendliche Unschuld ebenso glaubhaft verkörpert wie das langsam in ihr aufkeimende Begehren. Dass am Ende das Zitat „Sie war ein armes kleines Wesen voller Rätsel, wie wir alle“ auf der Rückwand aufblitzt, wirkt da fast schon ein bisschen ironisch. Weil Mijnssen im Gegensatz zu Textdichter Maurice Maeterlinck und trotz aller Beteuerungen Mélisandes, wenig Zweifel daran lässt, wer der Vater ihrer auf dem Sterbebett geborenen Tochter ist.
Dramatische Inszenierung im Graben
Ein Ansatz, der sich gut mit der Lesart von Hannu Lintu verträgt. Was er im Graben mit dem Bayerischen Staatsorchester inszeniert, mag vielleicht nicht das filigranste Debussy-Dirigat aller Zeiten sein, hat jedoch seine ganz eigenen Meriten. Der finnische Maestro, der in Helsinki vor kurzem erst einen überzeugenden „Ring“ zu Ende schmiedete, lässt gerade die offensichtlichen Wagner-Reminiszenzen immer wieder ordentlich hochwogen. Dies wird jedoch fast durchwegs als scharfer Kontrast zu den intimen Momenten der Partitur genutzt, die Lintu eben nicht nur als psychologische Studie begreift, sondern gleichzeitig das dramatische Potenzial voll ausreizt und so die endlos dahinwogenden Dialoge stets mit Nachdruck in Bewegung hält.