Foto: Muntere Gruppentherapie: Lauri Vasar (Don Carlos), Goran Jurić (Mendoza), Violeta Urmana (Die Duenna), Aida Garifullina (Luisa) und Bogdan Volkov (Don Antonio) © Ruth und Martin Walz
Text:Clemens Haustein, am 14. April 2019
Dimitri Tscherniakow, das darf man wohl so sagen, ist der Lieblingsregisseur von Daniel Barenboim. Bald jährlich inszeniert er an der Berliner Staatsoper, vorige Saison Wagners „Tristan und Isolde“, deren Handlung er psychologisch sensibel aus den Kindheitstraumata der männlichen Hauptfigur heraus begriff. Nun, bei den diesjährigen Staatsoper-Festtagen, folgte Sergej Prokofjews selten aufgeführtes Lustspiel „Die Verlobung im Kloster“ (zuletzt an der Staatsoper 1958). Es mag Tscherniakows handwerkliche Gewissenhaftigkeit sein, die Barenboim schätzt, und seine Fähigkeit, große Spannungsbögen zu schaffen. Eine Kunst, die er mit dem Dirigenten teilt. Dazu gehört, dass Tscherniakow in seinen Inszenierungen Phasen zulässt, in denen nicht viel passiert, in denen die Dramaturgie durchzuhängen scheint und man als Betrachter sich dabei ertappt, schon mit dem Abend abzuschließen. Wenn Tscherniakow zum Ende hin dann unvermittelt die Schrauben wieder anzieht, ist die Wirkung umso eindrucksvoller. So war es beim „Tristan“, so ist es auch jetzt wieder.
Dass Prokofjew hier eine Verwechslungskomödie des 18. Jahrhunderts vertonte, wie sie vom Handlungsmuster her wohlbekannt ist, nimmt Tscherniakow zum Anlass, die äußeren Umstände dieser Handlung gleich ganz zu ignorieren. Der irische Dramatiker Richard Brinsley Sheridan, dessen Komödie „The Duenna“ (Die Amme) dem Libretto zugrunde liegt, siedelte sein Stück im Sevilla der damaligen Zeit an. Davon bleibt hier nichts übrig. Tscherniakow inszeniert stattdessen eine Oper über die Oper im Allgemeinen und das, was sie mit den Menschen macht.
„Gemeinschaft anonymer Opern-Abhängiger“ steht auf dem Vorhang, bevor er sich hebt und den Blick freigibt auf einen fensterlosen Raum mit wirr herumstehendem Staatsopern-Gestühl. Neun Personen haben sich hier zur Gruppentherapie eingefunden, Opernsüchtige verschiedener Art: gescheiterte Sänger, die nicht von ihrem Karrieretraum lassen können, eine ehemalige Diva, die mit der Tatsache zu kämpfen hat, dass ihre Zeit vorüber ist, ein zwanghafter Operngänger, der die Vorstellungen, die er besucht, mit dem Diktiergerät mitzuschneiden pflegt. Strategie zur Suchtbewältigung, moderiert von einem dickbauchigen Therapeuten: selbst aktiv und schöpferisch zu werden. „Wir erfinden eine Oper“ steht auf einer Flipchart – und die Oper, die nun gleichsam im improvisierenden Spiel erfunden wird, ist eben die „Verlobung im Kloster“.
Während der knapp drei Stunden sind alle neun Personen immer auf der Bühne. Am fensterlosen Raum, prosaisch ausgeleuchtet, ändert sich nichts, außer dass einmal das Gestühl verschoben wird. In seiner Beschränkung ein nahezu tollkühner Ansatz, den Tscherniakow in besessener Detailarbeit mit Leben zu füllen sich anschickt. Eine Oper in der Oper nach Matrjoschka-Prinzip: Um das für den Betrachter erkennbar zu machen, wählt Tscherniakow als Stilmittel die ironische Brechung. Das erste Publikum noch vor jenem im Opernhaus ist das der Kursteilnehmer, die in belustigter bis aufgekratzter Stimmung verfolgen, wie sich ein Gruppenmitglied bei seinem Rollenspiel schlägt. Mit vielsagendem Gekicher, bedeutungsvollen Seitenblicken und verräterischem Augenzwinkern gibt hier noch jeder zu verstehen, dass er humorsatte Distanz empfindet zu dem, was hier gerade an Oper „erfunden“ wird. Und die singenden Akteure zeigen, dass sie beim Singen zugleich belustigt neben ihrer Rolle stehen.
Was Tscherniakow hier an mimischen und gestischen Details einstudiert hat, wie er mit überraschender Personenführung die Eintönigkeit seines Bühnenbildes bespielt, ist stark. Dabei helfen sängerisch wie darstellerisch brillante Sänger: Stephan Rügamer allen voran mit enormem Talent zur Komik und einem angemessen neurasthenisch flackernden Tenor. Er übernimmt im therapeutischen Spiel die Rolle des Don Jerome, der am Ende sowohl Tochter als auch Sohn verheiratet bekommt. Dann Aida Garifullina, die mit kapriziösem, ironisch lächelndem Sopran die Luisa singt; Anna Goryachova übernimmt mit dramatisch glühendem Mezzo die Rolle der Clara. Andrej Zhilikhovskys verführerischer Tenor verleiht dem Don Ferdinand eine warme wie liebenswert naive Anmutung, Bogdan Volkov, als gescheiterter Bariton, der sich beim Singen stets komisch in den Knien wiegt in Konzentration auf die Gesangstechnik, gibt den Don Antonio mit romantischer Inbrunst. Ein Sängerensemble von außergewöhnlicher Qualität und Geschlossenheit.
Tscherniakows Konzept freilich ist auf Dauer extrem fordernd für den Betrachter, der zur ständigen Transferleistung gezwungen ist zwischen innerer und äußerer Opernhandlung. Auch scheint der Reichtum von Mimik und Gestik wie gemacht für eine Nahaufnahme, wie sie nur eine Filmkamera liefern könnte. Auf die Ferne des Opernhauses muss der Betrachter, der schon nicht wenig damit zu tun hat, die Texte dieses Konversationsstückes auf der Übertitelungsanlage mitzuverfolgen, schon sehr genau hinschauen. Mit einem Wort: Es macht sich Ermüdung breit, dem ausgefeilten Humor des Regisseurs immer weiter zu folgen. Prokofjews komisch lauernde, immer wieder in mediterraner Emotionalität ausbrechende Musik nimmt man dabei zunehmend wie ein Hintergrundrauschen wahr, über dessen Bedeutung man im Unklaren bleibt. Daran kann auch die so bissige wie lyrisch empfindsame, im Ganzen höchst souveräne Wiedergabe der Staatskapelle unter Daniel Barenboim wenig ändern.
Jedoch begreift man all das als berechnetes, durchaus gewagtes Manöver, wenn Tscherniakow in den beiden Schlussakten die Spannungskurve ganz allmählich wieder nach oben biegt. Die Stimmung im Therapieseminar verschärft sich, die Grenzen zwischen Rolle und wahrem Ich der Süchtigen verschwimmen, der Therapeut wird auf einem Drehstuhl gefesselt und muss schließlich bei der Oper, von der er eigentlich befreien sollte, mittun: als Priester, der die Paare, die sich endlich gefunden haben, traut. Die Oper hat gesiegt, die Süchtigen kommen nicht von ihr weg, was im Schlussbild, der eigentlichen Hochzeitsszene, die hier als Traum des Don Jeronimo dargestellt wird, noch deutlicher zum Ausdruck kommt. Die Hermetik der Therapiegruppe wird endlich aufgebrochen, durch die Türen des fensterlosen Raumes treten Lohengrin mit dem Schwan im Arm, Salome mit abgeschlagenem Prophetenhaupt, Siegfried mit Schwert, Königin der Nacht, Zar Boris und was die Opernwelt sonst noch an großen Figuren zu bieten hat. Hier kommen sie zum großen, festlichen Bild zusammen nicht als Bilder eines Traumas, sondern als gute Geister.
Damit liefert Tscherniakow nicht nur die intelligente Aufbereitung eines komödiantischen Stoffes, der sonst womöglich im albern Kostümhaften steckengeblieben wäre. Er zeigt eine feine Allegorie auf die Welt der Oper und die nie endende Relevanz der Gefühle, die sie behandelt. Was könnte man sich Schöneres wünschen für die Eröffnungspremiere eines Opernfestivals!