Wir sitzen im Venussaal der Musikalischen Komödie Leipzig und durchleben gemeinsam mit Helena den Rückblick auf dieses Leben – am Abend vor ihrer Operation vom Mann zur Frau. Das queere Kammermusical „Ein wenig Farbe“ von Rory Six ist als Einpersonenstück ab 14 Jahren angelegt: Helena erzählt ihre Selbstfindungsreise der Krankenschwester Moser, die nie auftritt, und wird im Laufe des eineinhalb stündigen Abends zig Dialoge mit gerade meterhohen, roten Spielfiguren bewältigen. Gespräche mit den eigenen Kindern, mit der besten Schulfreundin, ihrer Therapeutin Heidelinde Gruber oder dem cholerischen Vater.
Eine überwältigende Hauptdarstellerin
Wie unterhaltsam, wie berührend das gelingt und man als sogenannte cisgeschlechtliche Zuschauerin wohl zum ersten Mal die Dimensionen von Transgeschlechtlichkeit überhaupt versteht – das ist AMY zu verdanken, der überwältigenden Hauptdarstellerin, die Helena als erste trans* Frau verkörpert, während „Ein wenig Farbe“ bisher von cis-Männern oder cis-Frauen gespielt wurde. Komponiert ist das 2018 in Wien uraufgeführte Musical nämlich in zwei Versionen: für hohe oder tiefe Stimme. Die Besetzung durch AMY, die in der Musikalischen Komödie schon Fans hat seit ihrer Rolle als Leo Bloom in „The Producers“, ist folgerichtig. Die Musical-Stimme klingt weiblich-sanft, hat dennoch tenorale Power und Farbe behalten – das Publikum hängt ihr an den Lippen.
Im Kostüm von Melchior Silbersack – weiße weite Hose, enger Body – spielt und singt sich Helena auf der minimalistischen Bühne (Frank Schmutzler) durch ihre Vergangenheit, steigt auf ihr Krankenhausbett, holt aus rollbaren Regalteilen die Figuren ihres Lebens – Vorhang auf, Vorhang zu – oder dreht diese Regalwände um, so dass riesige Spiegel sichtbar werden, vor denen sie immer wieder ihre Geschlechtsidentität wechselt, wechseln muss, wenn die Mutter ihre heimlichen Schminkaktionen entdeckt. Dabei gelingt Regisseurin Lucia Reichard und Dramaturgin Inken Meents die Gratwanderung zwischen sehr intimen Momenten und prächtig getanzten Musical-Showeinlagen. Helenas Hymne an Jugendliebe David Steiner gehört zu den absoluten Höhepunkten.
Hier stimmt einfach alles, was auch am dramaturgisch auf den Punkt gebauten Stück des Belgiers Rory Six liegt, mit eingängigen Songs für kleines Kammerensemble aus Geige, Cello, Kontrabass, Klavier und Gitarre unter der Leitung von Kathryn Bolitho, die vom äußersten Rand des Saales alle Fäden zusammenhält. „Ein wenig Farbe“ sei alters- und geschlechtsunabhängig allen ans Herz gelegt, die sich berühren, überraschen und vielleicht auch hinterfragen wollen. Der Szenenapplaus nach fast jedem Song kam übrigens auch von sichtlich bewegten älteren Damen im Publikum.