Bühne frei für den Tod

Aribert Reimann: L’invisible

Theater:Oper Frankfurt, Premiere:30.03.2025Autor(in) der Vorlage:Maurice MaeterlinckRegie:Daniela LöffnerMusikalische Leitung:Titus Engel

In Frankfurt hat Daniela Löffner Aribert Reimanns letzte Oper „L’invisible“ effektvoll, aber auch ein bisschen beliebig inszeniert. Unter dem Dirigenten Titus Engel gelingt dem Ensemble eine Leistung von ganz eigenem Profil.

„Toujours la mort!“ – „Immer wieder der Tod“ singt Carmen fatalistisch, als sie sich im Lager der Schmuggler die Karten legt. Und man weiß ja, wie die Sache ausgegangen ist. Wenn man sich mit Maurice Maeterlinck auseinandersetzt, weiß man das auch ohne Kartentricks. Seine Lyrik, Prosa und Dramatik sind durchdrungen vom Verhängnis des Todes. Und keiner konnte dieses Verhängnis so schön gruseldüster ausmalen und sich ihm so melancholisch hingeben. Dass Aribert Reimann bei seiner letzten Oper ausgerechnet bei diesem Todespoeten seine Zuflucht gesucht hat, hinterlässt schon ein seltsames Gefühl. Die Partitur allerdings legt offen, dass es sich dabei weniger um eine Vorahnung handelte als vielmehr um eine Rückerinnerung. Die Oper ist seinem Bruder Dietrich gewidmet, der 1944, 14-jährig, bei einem Bombenangriff in Berlin ums Leben kam, als er wegen einer Scharlach-Infektion im Krankenhaus lag.

Reimann hat oft darauf hingewiesen, wie sehr ihn dieser frühe tragische Tod immer verfolgt hat. Und man sollte auch nicht vergessen, dass er, als ihn selbst der Tod heimsuchte, bereits an einem weiteren Werk nach Oscar Wildes „Bildnis des Dorian Gray“ arbeitete. Wenn er also in seiner letzten vollendeten Oper „L’invisible“ den Tod gleich dreimal auf die Bühne bittet, dann wohl kaum in Erwartung seines eigenen Todes, sondern weil der Tod schon lange ein Lebensthema für ihn war. Bereits in den achtziger Jahren hatte er Meaterlincks Einakter „L’intruse“ und „Intérieur“ an der Berliner Schaubühne  kennengelernt und wusste sofort: „Das wirst du einmal komponieren“. Dreißig Jahre später stieß er auf „La mort de Tintagiles“ – und die Zeit war reif für diese „Trilogie lyrique“, wie er sie nannte. Das ist eine biographische Konstellation, die dann doch weit über das allzu naheliegende Schwanengesang-Motiv hinausgeht. Immer wieder der Tod also.

L'invisible Oper Frankfurt

Irina Simmes (Ygraine) und Johann Böhme (Tintagiles). Foto: Monika Rittershaus

Lebensthema eines Künstlers

Da wäre es doch schön, wenn eine Inszenierung sich mit der Frage auseinandersetzen würde, wie der Tod zum Lebensthema eines Künstlers werden kann. Zumal in einer derart düsteren Spielart: Er ist der unsichtbare Eindringling in „L’intruse“, dessen Gegenwart nur der blinde Großvater spürt, bis die Mutter im Kindbett stirbt, als ihr Neugeborener gerade den ersten Schrei tut. In „Intérieur“ bietet das traute Heim keinen Schutz, als „Der Alte“ und ein Fremder die Nachricht vom Selbstmord der Tochter bringen. Und der kleine Tintagiles fällt den sinistren Dienerinnen einer mörderischen Königin zum Opfer, die alle ihre potentiellen Nachfolger aus dem Weg räumt.

Bei der Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin hatte der Regisseur Vasily Barkhatov noch einen biographischen Bogen zum Tod Dietrichs im Krankenhaus geschlagen, indem er auch Tantagiles in einen Hospital sterben ließ. In Frankfurt aber hat jetzt Daniela Löffner, seit 2017 Hausregisseurin am Staatsschauspiel Dresden, bei ihren Operndebüt die Frage der Todesobsession liegenlassen und auch sonst so recht kein Thema gefunden. Ihre Inszenierung ist eine stimmungs- und effektvolle Vergegenwärtigung des Geschehens – bleibt aber eine tiefergehende Interpretation schuldig.

Zwischen Leere und grünen Grasinseln

Das Verhängnis der Kindsmutter vollendet sich auf einer schwarzen, leeren Bühne. Ganz links, von der in der Mittel tafelnden Familie ignoriert, leidet sie ihrem Tod entgegen, seltsamerweise im Rollstuhl. Rechts steht die Wiege des Kindes, ohne dass man recht erkennen kann, von wem sie bewohnt wird. Danach lässt der Bühnenbildner Fabian Wendling hübsche grüne Grasinseln von oben herniedersinken, unter denen düstergraues Wurzelwerk dräut: Oben hui, unten pfui! Nicht im „Interieur“, sondern auf der zentralen Grasinsel wird dann die Familie vom Tod der Tochter heimgesucht – beim Picknick im Grünen, wohl aus eher dekorativen Gründen. Und die dunkle Wurzel-Unterwelt darunter wird zum Schloss der finsteren Königin, wo auch ihre Enkelinnen Ygraine und Bellangère gefangen gehalten werden.

Sie beide, die hochvirtuos singende Ygraine vor allem, rebellieren gegen die Todesherrschaft und wollen Tantagiles retten – vergeblich; darin könnte man ja immerhin ein politisches Thema finden. Doch auch das lässt Daniela Löffner liegen. Sie schafft immer wieder verbindende Motive zwischen den Stücken: Anfangs kommt allein ein kleiner Junge auf die Bühne, die sterbende Mutter malt das Bild einer Königin, Requisiten wie der Rollstuhl und Versatzstücke der Kostüme (Daniela Selig) werden von Stück zu Stück weitergereicht. Aber all das findet kein Thema, bleibt lediglich assoziativ.

L'invisible Oper Frankfurt

Erik van Heyningen (Der Alte), Gerard Schneider (Der Fremde), Ensemble. Foto: Monika Rittershaus

Selbstbewusster Kontrast

Ganz anders die musikalische Interpretation von Titus Engel: Es war wirklich beeindruckend, wie selbstbewusst Sänger und Orchester unter seinem klugen und genauen Dirigat gegenüber der Uraufführung ihren eigenen Weg durch Reimanns anspruchsvolle Partitur fanden. Was in Berlin (nach dem Eindruck der CD-Aufnahme) noch sehr nach hochexpressivem, aber auch etwas pauschalem Reimann-Sound geklungen hatte, das war nun, auch in den Stimmen, sehr filigran ausgearbeitet. Auch die vor allem farblich, weniger dynamisch krassen Effekte der Partitur arbeitete Engel scharf heraus: die fast filmischen Suspense-Effekte der Streicher in „L’intruse“; den markanten Kontrast dazu, wenn im sehr tief grundierten Holz der „Todesakkord“ erklingt. Das Holz ist dann in „Intérieur“ klangbestimmend; dazu das höllische Dröhnen der parallel geführten Gongs und Pauken; schließlich der kontrastreiche und vielschichtige Tuttiklang in „La mort de Tintagiles“ – wie Engel das ausbalanciert, strukturiert und farblich aufraut, ist klasse!

Und die Sänger führt er ausgezeichnet. Irina Simmes singt ihre rhythmisch hochkomplizierte und darin keineswegs immer dankbare Ygraine-Partie mit bewundernswerter Akkuratesse und Schönheit, bei ihr kommt der Ausdruck weniger aus dem expressiven Überdruck als vielmehr aus dem fein ausformulierten Detail. Mehr oder minder gilt das für alle Sänger, insbesondere für die ebenfalls sehr klangschöne Bellangère von Karolina Makuła, den klaren und schlanken Tenor von Gerhard Schneider und den beim Großvater in „L’intruse“ noch ahnungsvoll aufgebehrenden, beim Alten in „Intérieur“ dann schon gebrochenen Resignationston von Erik von Heyningen. Und Iurii Iushkevich, Tobias Hechler und Dmitry Egorov, die drei Counter, waren sowohl im Monteverdi-Ton der teils harfenbegleiteten „Interludes“ wie auch im agileren Tonfall des mörderischen Dienerinnen-Trios ausdrucksvoll und überzeugend. Am Ende Beifall und Bravos, allerdings endenwollend nach dem recht baldigen Niedergang des Eisernen Vorhangs.