Foto: Das fiktive Ensemble probt für die Aufführung. © Hannes Rohrer
Text:Anne Fritsch, am 6. Oktober 2024
Zum Start der Intendanz von Oliver Brunner am Stadttheater Ingolstadt inszeniert Mirja Biel „Opening Night“ nach dem Film von John Cassavetes: ein heiterer Abgesang auf ein Theater voll überkommener Rollenzuschreibungen und lustvoller Ausblick in die Zukunft.
„Schauspielerinnen werden geohrfeigt, das ist Tradition.“ Wo Sätze wie dieser fallen, muss Mann sich nicht wundern, wenn Frau keine besonders große Lust auf dieses Spiel hat. Oder? In John Cassavetes’ Film „Opening Night“ aus dem Jahr 1977 sagt ihn der Regisseur Manny Victor zu seiner Hauptdarstellerin Myrtle Gordon. Okay, vielleicht hat sich ein bisschen was getan im Frauenbild im Theater seitdem. Aber ohne Frage haben es Schauspielerinnen noch immer ungemein schwer, nicht nur Klischees reproduzieren zu müssen.
Dass die neue Oberspielleiterin am Stadttheater Ingolstadt, Mirja Biel, sich diesen Film nun als Vorlage für ihre Eröffnungs-Inszenierung ausgesucht hat, ist also nicht nur wegen des Titels ein Statement: Es markiert das Ideal eines Theaters, das Gegebenes hinterfragt, auf überkommene „Traditionen“ pfeift und ihnen zeitgemäße Modelle eines Zusammenlebens entgegenstellt.
Matthias Nebel hat dafür einen offenen Bühnenraum entworfen, ein Teil des Publikums sitzt im Hintergrund auf der Bühne, verkörpert das Theaterpublikum in diesem Spiel um das Spiel. Schon bei der Öffnung des Saals sind auf der Bühne Technik und Requisite zugange, richten alles her für die erste Probevorstellung. Mirja Biel spielt mit der Optik des Films, zitiert Frisuren wie Elemente der Theaterkulisse, setzt sie neu zusammen und macht das Theater als etwas Konstruiertes, als Behauptung erfahrbar. Und was da behauptet wird, das liegt an uns.
Die Frau als Opfer der Gegebenheiten?
Myrtle Gordon hadert von der ersten Szene an mit ihrer Rolle. Dorothea Arnold spielt die facettenreiche Frau völlig ohne Anbiederung. Eine, die nicht genau weiß, was sie will von dieser Rolle und diesem Leben, aber sehr genau, was sie nicht will. Worum genau es geht in dem ominösen Stück „Die zweite Frau“, bleibt wie im Film unklar. Immer wieder sind es dieselben beiden Szenen, die zu sehen sind. Szenen, in denen sich jene Frau über Männer definiert, sich von Männern demütigen und schlagen lässt.
Dass Myrtle dieser gesichtslosen Frau kein Gefühl abringen kann, wer will es ihr verdenken? Sie vermisst Haltung, Freude, Ziele, Intelligenz: „Du reproduzierst Ohnmacht und Hilflosigkeit einer Frau auf dem Abstellgleis. Wozu?“, fragt Myrtle die Autorin, die das Bild von der Frau als Opfer der Gegebenheiten so internalisiert hat, dass sie es überhaupt nicht hinterfragt. „Sie will lieben und geliebt werden, aber ihre Zeit ist vorbei. So einfach ist das“, erklärt diese.
Für Myrtle ist es das nicht. Noch weniger, als eines Abends vor dem Theater die 17-jährige Nancy von einem Auto überfahren wird, nachdem sie Myrtle um ein Autogramm gebeten hat. Myrtle entwickelt eine Besessenheit für dieses Mädchen, das sie an ihr eigenes jüngeres und mutigeres Ich erinnert. Chen Emilie Yan übersetzt die Wut des Mädchens, die auch Myrtles eigene ist, in eine aggressive Körperlichkeit, erscheint ihr in überlebensgroß projizierten Halluzinationen ebenso wie in persona.
Richard Putzinger verkörpert den Regisseur mit eben jener Mischung aus Dominanz, Eitelkeit, Machtlust, Verachtung und Verzweiflung, die für Schauspielerinnen schon immer verhängnisvoll war. Samantha Ritzinger schwirrt als Garderobiere und guter Geist über die Bühne. Sie ist die einzige wirkliche Vertraute Myrtles und singt auch mal flirrend schön, wenn die Proben gerade wieder mal zum Stillstand gekommen sind. Matthias Gärtner ist Myrtles Partner im Spiel, der sie ohrfeigen soll, vor allem aber vor Publikum von ihr „fertig gemacht“ wird.
Lust an den Möglichkeiten des Theaters
Denn Myrtle will das alles nicht mehr, sabotiert die Proben und die Aufführung, hält sich nicht an Verabredungen. Zur Premiere schließlich erscheint sie zu spät und völlig betrunken, verabschiedet sich komplett vom verhassten Skript und zwingt ihren Partner auf offener Bühne zur Improvisation. „Was zum Teufel willst du von mir?“, fragt dieser verzweifelt. „Alles, was du mir nicht geben kannst“, antwortet Myrtle. „Ich will Jugend, übermenschliche Kraft, Luftschlösser, Glücksgefühle, Spaß, Emotionen… einfach alles!“ Was dann entsteht, ist lebendiges Theater. Ein großer Spaß!
Natürlich ist das nicht die Lösung aller Probleme. Aber durchaus ein Anfang. Was das Stadttheater Ingolstadt in Zukunft sein will, wird an diesem Eröffnungstag sinnlich erlebbar. Diese Inszenierung ist optisch aufwendig und voller Lust am Spiel und den Möglichkeiten des Theaters. Sie entzieht sich einer eindeutigen Botschaft ebenso wie eindimensionalen Figuren. Nur eines ist glasklar nach diesem schauspielerisch großen Ensembleabend: Theater kann so viel mehr, als Klischees zu reproduzieren. Es kann fordernd, überraschend, verspielt und sehr lustig sein. „Opening Night“ ist ein Plädoyer für eine offenere, buntere und gleichberechtigtere Zukunft. Für ein Theater, das Diskussionen anstößt und Lust macht auf mehr.