Foto: Yannick Fischer, Vivian Frey, Björn Boresch und Georg Grohmann (v.l.) in Tollers „Hinkemann“ © Marie Liebig/Staatstheater Meiningen
Text:Ute Grundmann, am 4. Oktober 2019
Jedermann ist Hinkemann. Sechs Rotschöpfe in jeans-blauen Kostümen, Kleid, Hose, auch mal Kleid und Hose,stehen auf der kleinen Bühne der Meininger Kammerspiele. Einer steht bedrückt im Vordergrund, seine Hände bergen etwas. Das Herzchen klopft noch, spürt er, doch das geblendete Distelfinkchen wird es nicht überleben. Das wird ihn bis zum Ende verfolgen, trotz allem, was er noch erleben wird: Krieg, Verletzung, Krisen. So beginnt Ernst Tollers selten gespieltes Drama „Hinkemann“ am Meininger Staatstheater.
Es ist ein doppelter Auftakt: Spielzeitbeginn und erste Inszenierung des neuen Schauspieldirektors Tobias Rott. Christian Rinke hat ihm eine karge Bühne gebaut: Eine Spüle links, die auch mal zur Kneipe wird, gestapelte Stühle, eine Drehtürenwand, einige Blumen verstecken sich. Rechts näht Knatsch (Peter Bernhardt) an etwas, in der Mitte klagt Hinkemann (Vivian Frey) sein Leben – und „Deutschland, Deutschland“ raunt es dazu.
In der Festungshaft wegen „Hochverrats“ schrieb Ernst Toller 1919 sein anklagendes Drama, uraufgeführt wurde es 1923. Sein Gesamtwerk erschien sogar erst 1978. „Hinkemann“ blieb sein meistgespieltes Stück – Tobias Rotts Inszenierung und sein großartiges Ensemble machen deutlich, warum.
Hinkemanns Frau Grete (Nora Hickler) versucht, ihn das Lachen zu lehren, vergeblich, entließ ihn der Krieg doch als „Nicht-mehr-Mann“. Das lässt Paul (Björn Boresch), als er es erfährt, schrill lachen – und Grete verführen. Arbeitslosigkeit bringt Hinkemann dazu, sich als Rattenfresser im Varieté zu verdingen, Gotteszweifel, Erniedrigung kommen hinzu.
Tobias Rott lässt immer wieder das „Deutschland, Deutschland über…“ hereinklingen, doch mehr Kommentar braucht es nicht. Überzeugende Charaktere, ein tiefgründiger, nie schwerer Text, der bis auf wenige Formulierungen von heute stammen könnte. Marsch- ist schon hier die neue Volksmusik, den Reichen ist ein Palast mit 20 Zimmern zu eng, während die Arbeiter sich kaum die Miete leisten können, Kinder schon gar nicht. Grete, der Hinkemann ihr „Heiland“ ist – auch das ungesund, will nur ihre Ruhe, Michel (Georg Grohmann) die Auseinandersetzung. Doch auch das Fazit „Die Schandwelt ist schuld“ ist für Toller und in dieser Inszenierung viel zu einfach, da wird gegengehalten. Erstaunlich auch: Gleich drei Theater in Mitteldeutschland begannen die Saison mit dem Thema Krieg (Chemnitz „Der Frieden“, Dresden „Mutter Courage“, nun Meiningen), da brennt etwas unter den Nägeln.
Doch auch hier in den Kammerspielen muss niemand das Wort „Globalisierung“ an die Tafel schreiben, das macht auch niemand; es werden keine Zeigefinger oder Plakate hochgehalten. Die politischen Diskussionen, die Toller seinem Stück auch mitgab, werden ausgefochten: Judenpogrome wähnt man noch im fernen Galizien, Gesindel muss parieren lernen, helfen Politik oder Protest in einer aufgewühlten Welt – aber sie dominieren nicht.
Und gerade deshalb überzeugt dieser „Hinkemann“, weil es um hilflose, gebeutelte Menschen geht, die irgendeinen Weg für sich suchen, aber selten finden. Das drastische Ende – Hinkemann nimmt sich den Strick – wandelte Toller später in ein freundlicheres Finale; trotzdem brauchten die Zuschauer nach knapp zwei Stunden eine lange Atempause, ehe der Applaus begann und mit Begeisterung und Bravos für diesen Auftakt endete.