Foto: "Betulia Liberata" in Potsdam. Robin Johannsen als Amital (im Vordergrund) © Stefan Gloede
Text:Wolfgang Behrens, am 30. November 2014
Blickt man aufgeklärten Auges auf diese Geschichte, dann kann einen schon tiefes Erschrecken packen. In der belagerten Stadt Betulia ist die Lage im Grunde hoffnungslos, die Menschen drohen zu verdursten, doch religiös-fanatische Kräfte – allen voran der Herrscher Ozia – verhindern eine politische Lösung und appellieren an ein bedingungsloses Gottvertrauen. Schließlich findet sich auch noch eine Frau bereit, Giuditta (die biblische Judith), nur mit ihrem Glauben gewappnet ins feindliche Lager zu gehen. Dort gelingt es ihr, den gegnerischen Feldherrn Holofernes zu enthaupten – was in Betulia Jubel auslöst: „Lob sei dem großen Gott, der seine heidnischen Feinde erschlug.“
Was vor kurzem noch nur als ein weit in die biblische Vergangenheit entrückter Stoff wahrgenommen werden konnte, löst in der unmittelbaren Gegenwart, in der Schreckensnachrichten vom Islamischen Staat an der Tagesordnung sind, ein sehr konkretes Echo aus. Wir finden in Betulia eben jene Verbindung von Staat, religiösem Fanatismus und propagandistischer Affirmation einer Bluttat vor, die uns den Islamischen Staat so zutiefst unannehmbar macht.
Man muss immerhin zugunsten Betulias anführen, dass die Stadt nicht selbst als Aggressor auftrat, sondern den Krieg samt Belagerung von den Assyrern aufgezwungen bekam. Es ist das eine Situation, die im Wien des Jahres 1734 – als Pietro Metastasio das Libretto zu seiner Azione sacra „Betulia liberata“ (Das befreite Bethulien) schrieb – noch durchaus vertraut war: Die letzte Belagerung Wiens durch die Türken lag erst ein halbes Jahrhundert zurück, und die Scharmützel dauerten noch immer an. Als der junge Mozart 1771 das Libretto auf Bestellung eines Adligen aus Padua vertonte, war es allerdings ein bereits gut abgehangener Stoff, der auf den konservativen Geschmack des Auftraggebers schließen lässt.
Wenn sich die sogenannte „Potsdamer Winteroper“, eine mittlerweile zum 10. Mal stattfindende Koproduktion der Kammerakademie Potsdam mit dem Hans Otto Theater, in diesem Jahr der „Betulia liberata“ annimmt, dann ist das zuerst einmal eine Gelegenheit, Mozarts nur selten zu hörende Musik zu diesem Werk kennenzulernen. Und die stellt sich dank der Verve, mit der Antonello Manacorda, der Künstlerische Leiter der Kammerakademie, und sein Ensemble die Sache angehen, als durchaus vital dar: Manacorda setzt auf rhythmische Attacke und scharfe Akzente, fürchtet auch nicht die dynamischen Extreme (wundersam schattige Pianissimi eingeschlossen) und bringt so die Affekte der Partitur zu sprechender Darstellung.
Dabei steht Manacorda ein ausgewogenes, sehr stilsicheres Sängerensemble zur Seite, in dem nicht zuletzt die Damen glänzen: Bettina Ranch als Giuditta bietet einen markigen, bei den tiefen Tönen gar markerschütternden Alt auf, der gleichwohl nichts an Beweglichkeit zu wünschen übrig lässt und übergangslos zwischen den Registern wechselt. Die heimliche Hauptrolle kommt indes Robin Johannsen als zweifelnder Amital zu, einer mit realistischem Einschätzungsvermögen begabten jungen Frau, der Metastasio und Mozart die größte Spannbreite der Affekte zugestehen. Johannsen lässt ihren Sopran in den ersten beiden Arien dramatisch und koloraturstark erstrahlen, ehe sie bei ihrem dritten Auftritt – als Amital um Verzeihung für ihren Unglauben bittet – auch zu bezwingend innigen Tönen findet.
Die Inszenierung von Jakob Peters-Messer tut indes nicht viel mehr, als möglichst verständlich die Geschichte zu erzählen – das freilich mit handwerklichem Geschick. Am Aufführungsort, der Friedenskirche am Rande des Parks von Sanssouci, hat der Ausstatter Markus Meyer eine dreieckige Stegbühne gebaut, in deren Mitte das Orchester sitzt, im Hintergrund ist der Kirchenaltar von einer den Bühnenraum abschließenden Rückwand verstellt. Die ganze Szenerie ist mit einem gigantischen Schlangenskelett bemalt: ein hübsches Sinnbild für die von der Auszehrung bedrohte Stadt Betulia. Ein Chronist – der Tänzer und Schauspieler Michael Ihnow – führt durch die Handlung, indem er fallweise zentrale Sätze aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt oder bloß Berichtetes wie den Tod des Holofernes choreografisch illustriert.
Genau in diesem illustrativen Moment liegen aber auch die Schwierigkeiten – oder besser: die Harmlosigkeiten der Aufführung. Dass mit Thorarolle, Kippas und schwarzen Gewändern eine konkrete Verortung in der jüdischen Orthodoxie angestrebt wird, mag noch angehen. In Zeiten jedoch, da der Presserat – wie gerade jüngst geschehen – den Abdruck von Enthauptungsfotos ausdrücklich rügt, mutet der kommentarlose Griff in die theaterplastische Mottenkiste, der in billigem Realismus den abgeschlagenen Holofernes-Kopf zutage fördert, reichlich naiv an. Dem höchst problematischen religiösen Fanatismus der Betulier weiß die Inszenierung keine Haltung entgegenzusetzen. Dass Giuditta von ihrem Attentat deutlich traumatisiert zurückkehrt, ist das Maximum an Aussage, zu dem sich Peters-Messer hinreißen lässt. Dem Schrecken, den die Geschichte der befreiten Stadt Betulia birgt, ist so jedenfalls nicht beizukommen.