Foto: Utopie-Präsentation im "Theater am Alten Markt". Die Sänger Melanie Kreuter und Caio Monteiro mit Stadtmodellfragmenten. © Martin Becker
Text:Andreas Falentin, am 30. April 2015
Mehr als ein Musiktheaterabend: Fast ein Jahr lang hat das Theater Bielefeld sich in die Stadt begeben, ihren Bürgern mit Mini-Ausstellungen und Workshops unkonventionelle Kommunikationsangebote gemacht, nach Utopien für die Stadt gesucht und versucht, partnerschaftlich welche zu entwickeln. Und diese jetzt zu präsentieren.
Zu Beginn läuft ein von einer Frauenstimme vorgetragener Text in Endlosschleife vom Band. Hier geht es um die Öffnung des Theaters für ein derart unkonventionelles und ausuferndes Projekt, um Koordination, Organisation, vor allem um Abbau von Hindernissen. Dazu wird auf einer kleinen Bühne nach undurchschaubarer Methode mit groß dimensionierten Holzleisten und -objekten hantiert. Die Schauspielerin Magdalena Helmig übernimmt, erklärt das Projekt, bebildert es mit Hilfe einer Live-Cam. Mit einer röhrenden Posaune setzt Musik ein.
Der Beginn rückt eine entscheidende Fragestellung ins Zentrum. Was soll „Plätze.Dächer.Leute.Wege.“ denn nun sein? Musikalisch reflektierte, analysierende Dokumentation des Recherche- und Dokumentationsprozesses oder künstlerische Organisation des erarbeiteten Materials nach vordringlich ästhetischen Leitlinien? Interessanterweise gerät die einstündige Aufführung da am überzeugendsten, wo sie keine wahrnehmbare Haltung zu dieser Fragestellung einnimmt. Wo die fantastischen Sänger Melanie Kreuter und Caio Monteiro einfach mal ein knackiges Duett mit dem einzigen Text „Bielefeld“ singen oder eine hübsch ironische Hommage auf das Attribut „schön“. Permanent finden kleine Grenzüberschreitungen statt, tanzt ein Sänger, singt eine Schauspielerin, flüstert eine Sängerin. Kleine, abstrakte Holzmodelle werden auf eine Tänzerin gehäuft, die sich erst befreit, dann wieder verheddert. Wenn es aber didaktisch wird, wenn etwas erklärt, angekündigt oder zum besseren Verständnis wiederholt wird, erlischt das Funkeln, glaubt man gar Papier rascheln zu hören. So wirkt die ungewöhnliche Regiearbeit des jungen Ivan Bazak ein wenig unausgeglichen, gelegentlich auch introvertiert.
Vollkommen anders daher kommt die Musik von Gordon Kampe. Mit nur acht Musikern stellt er ein permanentes Stimmengewirr her, eine spannende, postmoderne Zitatenüberlagerungsmaschine mit avantgardistischen Widerhaken, konsumierbar, aber nachwirkend. Eine lustvolle Theatermusik mit Alt-Bielefelder Kochtöpfen als Schlaginstrumenten, die nach einer CD-Dokumentation schreit, denn das Stück wird nach vier Vorstellungen vorhersehbar auf ewig im Archiv verschwinden.
Und das genau ist das Hauptproblem. „Plätze.Dächer.Leute.Wege.“ hat so gar nichts von einer Abschlusspräsentation. Es wirkt wie ein Anfang, einschließlich des sprichwörtlich diesem innewohnenden Zauber. Im verwendeten Gesprächsmaterial geht es um Sinn und Umsetzbarkeit von Utopien an und für sich, um ein Fußballfeld, um einen Fluss, der vielleicht wieder durch die Stadt fließen könnte wie damals, um einen persönlichen Karrierewunsch. Da wirkt Bielefeld fast wie eine Insel der Seligen. Gibt es hier tatsächlich niemanden, der abgelaufene Lebensmittel aus dem Supermarkt kaufen muss? Obdachlose begegnen einem zumindest schon in der Fußgängerzone, wenn auch weniger als anderswo. Gälte es nicht auch die zu erreichen? Und die, die das große Geld bewegen? Wenn ein Theater wirklich einen in eine utopische Zukunft gerichteten Dialog in einer Stadt wie Bielefeld etablieren will, muss es dann selber utopisch denken? Und weiter machen? Vielleicht auch unter ständiger Einbeziehung des großen Hauses? Schon dieser kleine, außergewöhnliche Abend im Theater am Alten Markt, der implizit genau diese Fragen stellt, lässt das Haus leuchten. Aber nur für sehr kurze Zeit und sehr wenige Menschen.