Foto: "Exists and Entraces" am Bayerischen Staatsballett © Wilfried Hösl
Text:Vesna Mlakar, am 26. Juni 2013
Merce Cunningham war ein radikaler Erneuerer. Indem er die Unabhängigkeit von Tanz, Musik und Kunst im Ballett propagierte, brach er alte Sehgewohnheiten ebenso auf wie herkömmliche Kreationsprozesse. In seiner 1999 in Berkeley (Kalifornien) uraufgeführten Produktion „Biped“ fügen sich Klang, Bewegung und – damals noch imposantes Novum – computergenerierte Projektionen erst in der Vorstellung zusammen: drei voneinander unabhängige, in der Aufführung koexistierende Elemente. Die Quintessenz: Tanz pur – ohne Handlung, ohne emotionalen Ausdruck, gleich einem sich beständig wandelnden Fluss von kompliziert skulptural agierenden Körpern im Raum.
Unter Anwendung des Zufallsprinzips treten acht Tänzerinnen und sechs Tänzer unvorhersehbar, im Gruppengefüge asynchron, individualistisch, paarweise oder in Formation auf. Fast wie ferngesteuert wirkt die Phrasierung und Koordination ihrer Bewegungen, die Beinarbeit erkennbar klassisch fundiert. Dennoch ist die Münchner Premiere im Prinzregententheater am 25. Juni 2013 eine sichtbar ungewohnte Erfahrung für die stilistisch vielseitigen Interpreten des Bayerischen Staatsballetts – ihr erster Kontakt mit der (in Linien- und Richtungsführung sowie Rhythmik) diffizilen Technik des 2009 verstorbenen amerikanischen Postmodernisten aber auch die Chance, das originelle 45-minütige Werk vor dem Verschwinden zu bewahren. Die Merce Cunningham Dance Company hat sich seit Beendigung der Legacy Tour 2011 längst in alle Winde zerstreut.
Wie zu Cunninghams Lebzeiten begleitet Komponist Gavin Bryars und sein Ensemble die 14 Perfomer live aus dem Orchestergraben: unaufdringlich, mit einem Sound von meditativen Sphärenklängen. Die Plattform der in metallic-silbern schillernde Trikots gekleideten Tänzer changiert zwischen nüchtern schwarz und sich überwischenden weißen und blauen Quadraten (Bühne: Shelley Eshkar, Paul Kaiser). Zur Decke hin erstrecken sich farbige Leuchtstreifen, deren Anzahl, Form und Konstellationen sich im Verlauf des Stücks permanent verändern. Blickfang und Clou von „Biped“ sind allerdings die dreidimensional durch Lichtwald und Raum huschenden Bildwesen aus geschwungenen Linien oder tänzelnden Punkten. Im Wechsel der Beleuchtungseffekte sorgen sie für eine ästhetisch einmalig reizvolle Wirkung sowie anrührende Momente, in denen digitale Körper die irdische Bodenverhaftetheit der Tänzer in Dimensionen grenzenloser Schwerelosigkeit weiterzutragen scheinen.
Dieser deutschen Ersteinstudierung stellte Bayerns führende Kompanie in ihrem neuen Zweiteiler „Exits and Entrances“ mit „Unitxt“ des aus North Carolina stammenden Ex-Forsythe-Tänzers Richard Siegal eine in seiner Machart Cunningham vergleichbare Uraufführung voran. Die Körper von sieben Frauen und fünf Männern sprühen vor Virtuosität; ihre formale Konzentration und Ausfüllung des leeren Raums wird durch Lichtgestaltung und Aufscheinen von Schriftzügen mitbestimmt. Carsten Nicolai hat dazu eine rhythmisch dröhnende Klangkulisse mit starken Beats gezaubert, die sowohl Ensemble als auch Zuschauer mitreißt. Nach 25 Minuten brandet Applaus auf. Bejubelt wird das organische Zusammenwirken von tänzerischer Energie und visueller Atmosphäre bis hin zu tranceartiger Sogwirkung. Siegal, der am 5. Juli mit dem Tanzpreis der Landeshauptstadt München ausgezeichnet wird, hat ein reines Tanzstück abgeliefert, voller Dynamik, dominiert von explosiver Körperspannung. Flamencotänzern nicht unähnlich, schlagen die Frauen ihre Spitzenschuhspitzen auf den Boden, – bis Dunkelheit das Wort Silence verschluckt. Die Frage nach dem Beitrag des Industriedesigners Konstantin Grcics zum Drive der Paare löst das Programmheft: Aus der Ferne unscheinbare Griffschlaufen an den Korsagen der Tänzerinnen ermöglichen bewegungstechnische Innovation und choreografische Beschleunigung.