Foto: Bernhard Glose, Steffen Reuber und Gabriella Weber halten Köpfe in den Händen. © Franziska Götzen
Text:Martin Krumbholz, am 24. August 2024
Unter dem Überthema „Geheimnis“ bringt das Theater an der Ruhr in Mülheim Sophokles‘ „Ödipus“ auf die Bühne. Neben den Kostümen sind es vor allem die gezielten Worte, die begeistern.
Am Schluss verlassen sieben von acht Akteuren, in weiße geschlechtsneutrale Gewänder gehüllt, den Schauplatz. Ödipus, exzellent gespielt von Paulina Alpen, bleibt allein zurück. Die Sieben, ihrer Masken haben sie sich längst entledigt, gehen wieder dorthin, woher sie am Anfang gekommen sind, in den Raffelbergpark. Und während nun Ödipus zu seinem/ihrem Schlussmonolog anhebt, setzt plötzlich ein sanfter Sommerregen ein.
Besser hätte man den nicht timen können, denn schließlich geht es in Sophokles‘ Drama um eine Katharsis, eine Reinigung. Selbst wenn der eine oder andere Ahnungslose im Publikum nun einen Schirm aufspannt: Das ist perfekt. Man denkt dann auch nicht mehr über die rot-grün blinkende Drohne nach, die eine Weile über der Szene schwebte wie das Auge eines olympischen Gottes: Ödipus ist allein, blind, verzweifelt. Aber noch, scheint es, ist die Welt zu retten.
Das Theater an der Ruhr hat einen tiefgreifenden Strukturwandel hinter sich. Anstelle des früheren Repertoirebetriebs gibt es nun übers Jahr verteilt drei kleine Festivals, „Inseln“ genannt, die sich jeweils einem Thema widmen. Gespickt ist das Ganze mit Workshops, Konzerten, Performances, einem Kunstparcours, alles miteinander vernetzt. „Geheimnis“ ist diesmal für vier Wochen das übergreifende Thema. Analytische Dramen wie „Ödipus“ oder später „Der zerbrochne Krug“ fügen sich hier ausgezeichnet ein. Gerade die Sexualität ist voller Geheimnisse, das soll sich beispielsweise in dem Stück „Bock“ (lesen Sie hier die Kritik) bestätigen. Zur Eröffnung huschen fantastisch gewandete Spukgestalten übers Gelände hinter dem alten Solebad, nähern sich, entfernen sich, nehmen Kontakt auf oder nicht. Verrätselte Malereien liegen auf der Erde oder am Ufer des kleinen Sees.
Auf den Punkt
Aber das herausragende Ereignis ist dennoch dieser „Ödipus“ in der Fassung von Roland Schimmelpfennig, die bei der Uraufführung in Hamburg den mittleren von fünf Teilen des Antikenprojekts „Anthropolis“ (Menschenstadt) bildete. Während also Maestro Roberto Ciulli auf dem Kunstfest im fernen Weimar gastiert, debütieren in Mülheim die Regisseure Alexander Klessinger und Mats Süthoff mit einem bestechenden Konzept, das sich nicht zuletzt durch optische Verfremdungen auszeichnet. Die weißen Unisex-Gestalten auf der blutrot lackierten abstrakten Bühne tragen Masken mit blonden Perücken. Sie setzen sie hin und wieder ab, nur um sie am Schluss wie auf einem Altar zu arrangieren. Als wollten sie mit der ganzen schrecklichen Tragödie von Inzest und Vatermord, die sich langsam enthüllt hat, nichts mehr zu tun haben.
Bemerkenswert gut wird in dieser eher knappen Aufführung gesprochen. Da geht kein Wort, keine Silbe verloren, alles kommt gestochen scharf über die Rampe, selbst wenn etwa der Seher Teiresias bedauernswert stottert, weil er aus falsch verstandener Loyalität nicht preisgeben will, was er doch preisgeben muss. Nicht die Sonne bringt es an den Tag, sondern der Scharfsinn der Menschen, die der große antike Dramatiker mit beklemmender Spannung um den Kern ihrer Existenz kreisen lässt.