Peter Wawerzinek (a.G.)(vorn), Victoria Schmidt und Stefan Piskorz

Ode an den Rausch

Peter Wawerzinek: Schluckspecht

Theater:Hessisches Landestheater Marburg, Premiere:10.12.2016 (UA)Regie:Simon Meienreis

Betrunkene Menschen anzusehen, kann vieles sein: lustig, zum Fremdschämen und manchmal auch eklig. In seinem Roman „Schluckspecht“ beschreibt der Autor Peter Wawerzinek in autobiografischer und poetischer Weise seine Liebe zum Alkohol inklusive Entzug – und deckt das Spektrum von lustig bis eklig ab. Das bringt Simon Meienreis auf die Bühne der Black Box im Landestheater in Marburg. Für lustig bis eklig hat er eine szenische Form gefunden und dabei einen Auftritt für den Autor reserviert. Es wird geohrfeigt, mit rohen Eiern und Seifenblasen hantiert.

Wawerzinek beschreibt im Roman seine Jugenderfahrungen: Rockmusik vom Tonbandgerät, der erste Sex, Eierlikör von Pflegemutter Tante Luci aus dem Keller. Seine erste Liebe ist die schwarze Johanna – ein edler Tropfen. Der alkoholsüchtige Held hat in Marburg zwei Gesichter: das von Victoria Schmidt und Stefan Piskorz. S und P stecken in Jogginghosen, um die Waden und oberhalb ihrer Knie sind Plüschschoner, an den Schuhen Plüschkrallen.

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Regisseur Meienreis packt Rausch und Absturz in eine Parallelwelt und lässt P und S zwischen Spiel und Ernst, zwischen Seifenblasen und Ohrfeigen, hin und her toben. Dafür hat Mirella Oestreicher eine Rutschburg eingerichtet, dessen Halfpipe-große Rutschbahn das Bühnenbild bestimmt. Auf dem oberen Ende steht ein Galgen, daran hängen zwei Brutlampen. Rechts langweilt sich ein kaum genutztes Klavier.

P und S erzählen Wawerzineks Geschichte und tun dabei meist etwas anderes. Mit jedem Requisit bauen sie Bilder auf und lassen sie dann wieder wie Seifenblasen platzen, um sich dem nächsten zu widmen: Das Wartezimmer in einer Klinik, wenn sie vor dem Wald aus halbvertrockneten Zimmerpflanzen auf zwei Stühlen sitzen, der Zeitungsständer nebendran. Oder der Imponier-Tanz zweier Hähne, wenn sie sich Zeitungsblätter als Federschweif in den Hosenbund stecken und mit dem Hintern wackeln. Sie sind wie alberne Kinder, die spielen und sich manchmal ernsthaft kloppen. Ihre Einbildungskraft schafft sich ihr eigenes Universum, in dem alles etwas ver-rückt ist: die Sprache, die Handlung, die Wahrnehmung. Für den Zuschauer gibt es Gucklöcher in diese Welt, mehr nicht. Nüchternheit schließt eben manchmal aus. Zum Beispiel als P anfängt, tatsächlich Eier zu legen, die dann wie Flummis wegspringen.

Der Erzählstrang ist zerstückelter als im Roman, nichts als Erinnerungsfetzen mit Filmrissen. Dazwischen geschehen Dinge, bei denen der klare Verstand nicht immer mithalten kann. Trotzdem wunderschön anzusehen ist die Szene, in der sich die Trunkenbolde gegenseitig mit rohen Eiern einshamponieren. Im Vollrausch entdecken sie die echten Eier auf den Wartezimmerstühlen. Jeder nimmt eins und dotzt es an den Kopf des anderen, vermatscht es zärtlich mit den Haaren, der Glibber tropft, dann ist Ende im Gelände. Absturz.

Mehr Tiefe bringt der Auftritt des Autors und Performers Wawerzinek in die Inszenierung. Barfuß, ein Mickymaus-Handtuch um die Hüften, moderiert er durch eine Föhnbürste tonlos einen Text. Er imitiert seine eigene Tante Luci. Sie ist es, die dem Jungen im Roman den Palinka-Schnaps unter die Nase reibt und sie gibt ihren Küken P und S in Marburg die Plastikflügel, mit denen sie beim Ausbreiten auf der Rutschburg erst gegen die Gitterstäbe schlagen, dann den Ausgang aus dem Nest finden und flügge werden. Berührend ist Tante Lucis Tod im Schlick, den S erzählt. Wawerzinek steht daneben, die Hände auf dem Bauch gefaltet, das Gesicht schmerzverzogen, sich erinnernd.

Was sich durch das Herumtoben und Abstürzen hindurchzieht, ist Wawerzineks liebevoller Umgang mit Worten, mit dem Alkohol und seinen Folgen. Diese Poesie steckt in allen Gesten von Schmidt und Piskorz. Auch als sie aus ihrem Suff erwachen, die Eidotter und Eierschalen in den Haaren betasten, ist da keine Wut, keine Angst, keine Selbstzerstörung, nur Restpromille. Für diese Poesie eine szenische Form zu finden, ist eine Leistung, die am Ende der Uraufführung mit verhaltenem Applaus bedacht wird.