Foto: Ensembleszene aus "Zoff in Chioggia" in Bochum. © Arno Declair
Text:Hans-Christoph Zimmermann, am 30. Januar 2012
Theken, Tische und Stühle stapeln sich zu gefährlichen Möbelhalden, die Decke hängt bedrohlich herab. Das Chaos zweier Familien hat eine Schneise der Verwüstung im Café Chioggia hinterlassen. Nun herrscht bis auf ein paar Urwaldgeräusche wunderbare Ruhe. Da erinnern sich plötzlich der Cafébesitzer Isidoro, das Paar Pasqua und Toni und die vollbusige Madonna, die sowieso schon Liebesverhältnisse überkreuz unterhalten, plötzlich an früher, an uneingelöste 68er-Utopien – und beginnt gemeinsam zu kuscheln.
Das Chaos als Madeleine zu einer Utopie mit hohem Kuschelfaktor. Nuran David Calis’ „Zoff in Chioggia“ will hoch hinaus an diesem Abend. Während Carlo Goldonis Stück „Viel Lärm in Chiozza“ die Liebeshändel zweier Fischerfamilien zwischen Volksstück und Sozialstudie meint, geht es im Bochumer Schauspielhaus ums große Ganze: Calis hat die Konstellationen und die Funktionen der Figuren verändert; der Name Chioggia bezeichnet hier zwar nur ein Café, steht aber für den „Schoß der Gesellschaft“. Der Komödienstoff wird zur Großmetapher für Arbeits-, Lieblosigkeit, Utopie- und Sinnverlust und was der Defizite mehr sind hochgejazzt.
Aus Goldonis Fischern ist eine prekäre Kleinstadtgesellschaft geworden, in der jeder einen Job sucht und alle irgendwie im Café Chioggia arbeiten, in dem sich aber keine Gäste einfinden. Besitzer Isidoro (Jürgen Hartmann) versucht, seinen Laden, der in Irina Schicketanz’ Ausstattung mit grauen Normtischen, metallkühlen Theken und Wintergarten von Fabrikschlotidylle allzu cool aussieht, mit Werbeauftritten in Internet vollzukriegen. Das Problem: Seine Mitarbeiter. Da ist die allein erziehende Küchenchefin Madonna im Leopardendress (Veronika Nickl), die sich ihrer drallen Sinnlichkeit allzu bewusst ist. Ihr Sohn Fortunato (entrückt: Marco Massafra) glaubt sich von Aliens verfolgt, während ihre in Leder gewandete Tochter Checca (blass: Barbara Hirt) Gesellschaftskritik von der Stange übt („Immer höher, immer schnell geht nicht mehr“). Madonnas Widersacherin ist die Thekenchefin Pasqua, von Barbara Engelhart als Motorradbraut gespielt, hinter deren rotziger Breitmäuligkeit die Verzweiflung nistet und die auf dem Klo einen Selbstmordversuch unternimmt. Ihr allzu lethargischer Sohn Beppo (Matthias Eberle) liebt Checca und ihre fluchtwillige Tochter Lucietta (Constanze Wächter) wiederum den bodenständigen Titta Nane (überzeugend: Krunoslav Šebrek). Jede der Figuren darf in Monologen ein Bulletin zur Gefühls- und sonstigen Lage absondern, wobei vor allem Pasquas bärtiger Philosophenehemann Toni (gutmütig: Werner Strenger) durch langatmige Lexikonsätze über Aufklärung und Brückenbau auffällt.
Die Charaktere wirken ausgestanzt, Konfektionsware in der Warteschleife der Unzufriedenheit. Aufgemischt wird der Mikrokosmos dann durch die Ankunft des turko-italienischen Barmanns Toffolo (Ismali Deniz), der scheinbar die Liebesverhältnisse durcheinander bringt – doch auch er entpuppt sich letztlich als ein Gestrandeter. Calis reichert das szenische Geschehen zwar mit Einlagen der Hiphop-Tänzer der Gruppe Pottporus/Renegade an, lässt Lieder intonieren und Videoseinspielungen projizieren. Doch bei aller Ironie, der Zugriff auf den Stoff ist von einer erstaunlichen Naivität, die sich bis zum Aufruf einer Occupy Chioggia-Bewegung steigert, in der sich 68er-Utopien und aktueller Protest friedlich vereinen. Am Ende haben die alten Liebes-Konstellationen Bestand, man baut gemeinsam das derangierte Café wieder auf und entdeckt in den Zuschauern den erwünschten Besucherstrom. Wenn alles nur so einfach wäre!