Foto: Georg Ferstl (Francois d'Assise) im mit "der musizierende Engel" überschriebenen fünften Bild © Stephan Ernst
Text:Andreas Falentin, am 10. September 2018
Musikalisch großartige, theatralisch diskutable Umsetzung eines Solitaires der Theatermusik der letzten 50 Jahre.
Wie können Glaube, Frömmigkeit, geistliche Rituale oder sogar Wunder auf der Theaterbühne Form und Leben gewinnen? Ist das überhaupt möglich? Wer Messiaens 1983 uraufgeführten „Saint Francois d’Assise“ auf die Bühne bringen will, muss sich zwangsweise mit diesen Fragen befassen. Nicht nur weil hier eine transzendentale, zumindest spürbar nach Transzendenz strebende Heiligenlegende musikalisch Gestalt geworden ist, die zudem 4 ½ Stunden dauert, sondern auch und vor allem wegen des Charakters dieser Musik. Die meidet Pathos, strebt vielmehr nach dem Zustand der Verinnerlichung und sucht genau dazu immer wieder auch Distanz, hat also empathischen wie dialektischen Charakter. Und entfaltet eine singuläre Klangwelt. Die Streicher grundieren diese, durchaus nicht süßlich, eher zupackend geführt, spinnen nur solistisch fast außerweltlich schöne Linien. Ondes Martenots, prähistorische elektronische Instrumente und Bläser in verschiedenen Zusammenstellungen konturieren immer wieder die Berührung, die Begegnung mit dem Transzendenten. Die gewaltige Schlagwerkgruppe verhält sich dazu wie ein unruhiger, unregelmäßiger Herzschlag, schafft Distanz zum Geschehen, führt selten auch mitten hinein. Nie ist diese Musik fett, nie nur laut, nie bündelt sie sich zu romantischen Aufschwüngen, stets scheint sie im Fluss, unruhig und flächig zugleich.
Und sie ist bei Johannes Harneit in besten Händen. Seine klare, nie harte Zeichengebung ist ein Mittel- und Ruhepunkt der Inszenierung von Karsten Wiegand. Sie ist sichtbar, weil das Orchester auf der Hinterbühne spielt, ab dem dritten Bild in luftiger Höhe. Den von Messiaen geforderten „immergrünen Eichenbaum“ hat Bärbl Hohmann zwischen die Orchestermusiker gestellt. Manchmal steigt und sinkt dahinter der Mond. Was des Guten zu viel scheint. Monumentalität und Innigkeit der Musik stellen dekorative Verbrämung schnell als solche bloß. Brennende Kerzen auf der Bühne, gar Übertitelungen in Form eines Kreuzes wirken in diesem Umfeld wie schlimmster Kitsch. Der Theaterschlüssel zu diesem Stück scheint in der Einfachheit zu liegen. Wenn im fünften Bild Francois die Engelsmusik hört, läuft er schlicht lange Zeit im Kreis vor projizierten Kornfeldern. Mehr Kapazitäten läßt ihm diese spirituelle und ästhetische Erfahrung nicht. Ein klares, schlüssiges Bild. Die berühmte Vogelpredigt hält der Protagonist aus dem Publikum, vereint, bündelt so überzeugend Distanz und Nähe. Die überallhin projizierten fliegenden Vogelsilhouetten aber stören diese Konzentration, leisten nichts als ziellose Bewegung. Das stärkste Bild gelingt Karsten Wiegand und seiner Co-Regisseurin Luise Kautz im vierten Bild, in dem der Engel Francois‘ Mitbrüder nach der Vorsehung befragt. Anfänglich spielt dieser, ein wenig spielastisch übersteuert, mit Computertricks an mittelalterlicher Malerei herum. Als Bruder Bernard kommt, der ernsthaft antworten wird, verschwinden die Bilder und das Gespräch findet vor leeren Projektionsflächen statt – und ist ganz nah an der Musik.
Die wird von allen Beteiligten großartig zu Gehör gebracht. Das Staatsorchester und die Chöre scheinen um ihr Leben zu spielen, mit soviel Leidenschaft widmen sie sich der ungewöhnlichen Aufgabe. Sämtliche Solisten entstammen dem Ensemble des Staatstheaters Darmstadt. Der junge Bass-Bariton Georg Festl hat keine übertrieben schöne, keine besonders individuell timbrierte Stimme. Aber er singt hochmusikalisch und liefert sich seiner Partie aus, ohne je die Kontrolle aufzugeben. Und er ist jung. Das gibt Partitur und Stück eine neue, andere Aura als in früheren Aufführungen, wo diese Rolle von Interpreten auf dem Höhepunkt ihrer Karriere gesungen wurde, wie Jose van Dam oder Dietrich Fischer-Dieskau. Ferstl ist mehr Mensch, weniger Heiliger, mehr Körper, weniger Geist als sie, durchläuft wirklich eine Entwicklung. Katharina Persicke bewältigt die Höhen der Engels-Partie mühelos, mit überraschend körperreichem Sopran und spielt die von der Inszenierung vorgegebene Rolle als weiser, kindlich-erotischer Kobold mit großer Überzeugungskraft. Mickael Spadaccini ist ein in jeder Hinsicht ausdrucksstarker Aussätziger, Johannes Seokhoon Moon nimmt als Bruder Bernard mit balsamisch-klangschönem Gesang gefangen, der nie ins Phlegma abgleitet.
Erstaunlich das Schlussbild: Zu Tod, Apotheose und Sonnengesang befreit sich ein Vogeljunges aus dem Ei. Ums „Wunder Leben“ soll es gehen, vermutlich, von dem sich der im letzten Teil im Publikum sitzende Chor in den letzten Minuten abwendet. Unwillkürlich denkt man noch einmal anders nach über diesen Franziskus, der soviel zu geben hatte, aber sich und seine gewaltige Fähigkeit zur Hingabe abgewandt hat, hin zu Gott, fort von den Menschen. Ohne eigene Kinder, in denen er fortlebt. Wie jeder katholische Mönch und Priester bis heute. Priester und Kinder. Ein kritischer Akzent? Wahrscheinlich eher nicht. Eine musikalisch großartige, szenisch diskutable Aufführung in jedem Fall.