Foto: Bridget Breiners neue Choreografie "Schwanensee" am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Aidan Gibson, Ordep Rodriguez Chacon, Ayako Kikuchi, Hugo Mercier und Fabio Boccalatte (v.l.n.r.) © Pedro Malinowski
Text:Marieluise Jeitschko, am 11. November 2013
In Bridget Breiners „Schwanensee“-Choreografie gibt es keinen einzigen Schwan. In den beiden „weißen Akten“ tritt die Gruppe erst als höfische Gesellschaft in farbigen Teller-Tutus, im Finale als dunkel verschleierte Schatten auf. Odette ist ein Waldmädchen im megakurzen, weißen Fetzenkleid, das sich – wie Undine – nach einem Leben in Liebe zu einem Menschen sehnt, aber ebenso einsam und verzweifelt wie die Nixe wieder in ihr eigentliches Leben zurückkehrt, als die Menschen sie demütigen und verhöhnen, der Mann sie betrügt und flieht. Frei wie ein Vogel wird sie nun wieder sein – aber auch verletzt wie ein sterbender Schwan. Schwanen-Flügelschlagen und -Posen sind die deutlichsten Hinweise auf den großen Ballettklassiker – und natürlich die Musik.
Aber gerade hierbei geht, wie bei so vielen zeitgenössischen „Schwanensee“-Fassungen, Breiners Konzept nicht auf. Die Seele der Musik nimmt unweigerlich Schaden, wenn sie sich nicht im Tanz auf der Bühne spiegelt – besonders schmerzlich im berückenden Walzer des 2. Akts (mit dem Einschub der so witzig wackelnden und ruckelnden „kleinen Schwäne“). Freilich trägt in diesem Fall die Neue Philharmonie Westfalen unter Heiko Mathias Förster auch Mitschuld. Böses lassen schon die ersten Holzbläsertöne ahnen: steif und kalt klingen die klagenden Motive – ebenso wie später viele Streicher-Kantilenen derb und bar jeden melancholischen Pathos‘, das so wesentlich zum Zauber dieses Balletts beiträgt. Dass Breiner die Ballettmusik durch drei Tschaikowski-Lieder ergänzt – darunter „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide“ – ist ein zwar nachvollziehbarer, dennoch verzichtbarer Bruch.
Zur Ouvertüre erscheint hinter dem Gazevorhang Odette (die fabelhafte, sehr athletische Kusha Alexi) schemenhaft, in einen hellen Schleier gehüllt, und wird von drei grau verhüllten „Schatten“ durch die Lüfte getragen. In sich gekehrt tritt der Prinz auf (Ordep Rodriguez Chacon, grandioser Neuzugang von Martin Schläpfers „Ballett am Rhein“). Die resolute Königin (Ayako Kikuchi) hat drei Höflinge im Tross – die vorherigen Schatten; denn später wird sie sich als Rotbart gerieren. Sie präsentiert dem Sohn eine sehr irdische „Verlobte“ (Aidan Gibson), die sich als fremdgesteuerte Verführerin Odile entpuppt. Das sind personelle Doppelungen, die durchaus Sinn geben – sogar zwingend notwendig sind bei einer Truppe von nur 14 Tänzern. Acht davon sind neu engagiert und allesamt klassisch ausgebildet, sodass Breiners „Ballett im Revier“ sehr an technischer Qualität und Homogenität gewonnen hat. Aber insgesamt irritiert die Ambivalenz zwischen gestern und heute, aristokratischer und bürgerlicher Gesellschaft, Märchen und Realität. Breiner, in diesem Jahr für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie Choreografie nominiert für ihr Aschenputtel-Ballett „Ruß“, hat für „Schwanensee“ noch keine klare Linie gefunden. Sie ist aber jung genug, um sich noch lange mit dem „Ballett aller Ballette“ befassen zu können.