Foto: Szene mit Woong-Jo Choi (Hagen), Jochen Kupfer (Gunther), Vincent Wolfsteiner (Siegfried) und Ekaterina Godovanets (Gutrune). © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 12. Oktober 2015
Mit einem unverschämt genialen Regie-Schachzug hatte Regisseur Georg Schmiedleitner den „Siegfried“-Teil in seinem Nürnberger „Ring des Nibelungen“ beendet. Da holte der Titel-Held die schlummernde Brünnhilde aus ihrer hehren Göttlichkeit in die tieferen Etagen der irdischen Erotik, und reichte sie nach vollendetem Höhepunkt gleich durch ins bürgerliche Eheleben. Dorthin, wo Sofa und Glotze lauern. Wie sollte das in der „Götterdämmerung“, wenn Partner und Moral strategisch gewechselt werden, die Schwüre und die Rachetaten nur so purzeln, weitergehen? Überraschung, es geht nahtlos in die nächste Runde und nun wissen wir: Papa Mime hatte doch recht! Der Kampf-Recke, der in anderen „Ring“-Inszenierungen zu diesem Zeitpunkt längst von den Flegeljahren ins gehobene Fach gewechselt ist, bleibt in aller Burschenherrlichkeit der tumbe Tor: Bauer findet Frau – und das gleich doppelt. Daheim in der Einraumwohnung hinter dem Flammenkreis legt ihm Herzens-Muttchen Brünnhilde die Lederhose und das Trachtenhemd zurecht, auf dass er in die Welt hinaus Richtung Zweitfrau Gutrune ziehe. Am Hof der Gibichungen, wo der gewalttätige Hagen mit seinen hemdsärmeligen Mannen die Klaviatur der Haudrauf-Tyrannei beherrscht, ist er machtlos nur im Umgang mit Zaubertränken und Flirt-Attacken. Selbst als opferfrische Legende, vom hilflosen Gunter aus dem Tod aufgerichtet, bleibt er bei Normal-Größe. Während mit Pauken und Trompeten der Trauermarsch ins Bewusstsein fährt, steht er dort wie das Mahnmal seines Schicksals. So entmystifizierend hat wohl noch kein Regisseur den Lieblings-Donner aller Wagnerianer behandelt.
Vermutlich wäre es der bessere Schluss für Georg Schmiedleitners tagespolitisch aufgeladene Nibelungen-Erzählung, die nach schwankenden Zwischenergebnissen bei „Rheingold“ und „Walküre“ im zweiten Teil tatsächlich neue Akzente setzte. Hier stören Boatpeople durch stumme Anwesenheit die Stimmungslage (durchaus auch des Publikums) und wo die Opernwelt abhebt ins Außerirdische werfen aktuelle CNN-Nachrichten die Realität wie ein Fangnetz drüber. Aber da kommt ja noch Brünnhilde zum Abfackeln, die Botschafterin des mythischen Untergangs. In Nürnberg entdeckt sie überraschend neue Welten, lenkt ihr verstummtes Hojotoho begeistert zu den ebenfalls übersichtlichen Wortschätzen der Twitter-Follower und beginnt den zweiten Bildungsweg als Internet-Aktivistin. Ob Google das Ende ist oder der Anfang, wer weiß!
Im Bühnenbild von Stefan Brandtmayr, das die Natur wieder als Plastik-Müllhalde zeigt und die Gibichungen-Burg als Konzernzentrale, gibt es auf mehreren Ebenen viel zu sehen. Aber die Nornen, eine letzte Chance für ihr alles umspannendes Seil witternd, klettern im kompletten Vorspiel lieber knapp über den Köpfen der Zuschauer durchs Parkett, verlangen zum Gesang hilfreiche Hände als Stützen. Sie sind Boten der vordigitalen Zeit, die Tonbandspulen kilometerlang abrollen um noch einmal zu fesseln. Die Regie zeigt damit energiestrotzende Entschlossenheit, an allen Konventionen zu rütteln. Georg Schmiedleitner verweigert die besinnungslose Hingabe, er lässt das große Gefühl auf noch größere Zweifel prallen, entzieht dem Pathos mit grotesken Zuspitzungen (auch mal gewollt albernen Kaspereien) jegliche Basis. An der ohnehin unerfüllbaren Szenen-Phantasie Wagners mogelt er sich nicht vorbei, er entlarvt sie als Hochstapelei. Vor allem aber lässt der im Schauspiel sozialisierte Spielleiter den Sängern bei der Personenführung keine Leerstellen fürs Ungefähre.
Die Protagonisten danken es mit Hingabe: Vincent Wolfsteiner, neuerdings an der Frankfurter Oper unter Vertrag und mit diesem Nürnberger „Ring“ gewiss in die kleine Liga der echten Heldentenöre aufgestiegen, nimmt die Herausforderung sichtlich lustvoll an, hält den Siegfried auch bei großer Stimme in der Naivität gefangen. Er spielt das so nachhaltig, dass man sich gar nicht vorstellen mag, was bei einer Umbesetzung mit der Aufführung passieren kann. Rachael Tovay, die derzeit nicht mehr über die nach oben offene Skala explodierender Hochdramatik verfügt und das durch Sirenentöne kompensiert, verbindet vokale Kraftanstrengung mit feinen Studien aus Emphase und Empörung. Jochen Kupfer (an der Grenze seines Fachs) zeichnet den zerrissenen Charakter des Gunther bis ins unfreiwillig-komische Blutsbrüderschafts-Ritual nach Bully-Herbig-Art genau. Woong-Jo Choi allerdings hat Mühe mit dem Wüstling Hagen, weil dem ausgestopften Bauchgefühl die ebensolche Stimme fehlt. Auch Ekaterina Godovanets bleibt ihrer Gutrune ein paar Aufschwünge schuldig, während Antonio Yang (Alberich) und Roswitha Christina Müller (Waltraute) ihre Auftritte glänzend bewältigen.
GMD Marcus Bosch ist, ganz wie an den vorherigen „Ring“-Abenden, mit großer Kompetenz bei wechselndem Zugriff unterwegs. Er leibt das Detail, bietet im ersten Aufzug bis an den Rand der Selbstverleugnung die Staatsphilharmonie als Reibefläche der satirisch ausschlagenden Regie, schafft sogar Phasen von begleitender Bescheidenheit. Danach trumpft er auf Kosten der Sänger auf. Die Stimmen werden schriller, das Orchester klingt entfesselt. Dann umschmeichelt der Dirigent wie erlöst die attackierende Inszenierung, scheint auf offener Bühne eine manchmal denn doch ins Grobianische pulsierende Trotz-Regie feinfühlig im Klang zu verarbeiten. Es ist Kunstoperation am offenen Herz.
Die Sorge aller neuen „Ring“-Produzenten, auf längst abgeernteter Interpretationssteppe zu landen, ist der Nürnberger Inszenierung anzumerken. Aber sie wird bewältigt. Verwechselbar ist das Wagner-Projekt von Georg Schmiedleitner und Marcus Bosch im Spalier der Möglichkeiten nicht. Am irritierenden Ende der „Götterdämmerung“, wenn statt der brennenden alten Welt eine für neue Welten entbrannte Brünnhilde vor dem Computer sitzt, wirkten die Zuschauer denn doch verunsichert. Es gab den starken Beifall nicht rekordverdächtig und die Buh-Rufe nicht wirklich wütend. Kann sein, dass mancher erst nochmal drüber nachdenken wollte. So betrachtet darf von einer denkwürdigen Aufführung gesprochen werden.