Foto: Verdis "Don Carlo" am Theater Aachen © Carl Brunn
Text:Andreas Falentin, am 10. Februar 2014
Dieser „Don Carlo“ führt den Rezensenten nahezu zwangsläufig zur uralten Frage: Was kann, was muss Opernregie eigentlich leisten? Im leeren, von drei Tapetenwänden begrenzten Bühnenraum vermittelt Michael Helle schlüssig die Handlung. Er geht dabei kleinteilig vor, schafft klare Figuren. Ihre Motive, ihre Taten, ihre Haltungen sind zu verstehen, sogar ohne die Hilfe der Übertitelungsanlage.
Das ist doch schon viel, könnte man denken. Eine Opernaufführung, die wirklich allen zugänglich ist. Das gelingt selten. Aber es fehlt soviel. Helle liefert keinerlei gesellschaftlich-historischen Kontext, keinen Zeitbezug. Bei ihm spielt „Don Carlo“ in einer Diktatur der westlichen Hemisphäre, also einer Art negativem Wolkenkuckucksheim. Die Gags, mit denen er versucht, die Handlung aufzuhellen, die aus dem Souffleurkasten geworfenen Orangen vorm maurischen Lied etwa, laufen sämtlich ins Leere. Es bleibt ein Wohnküchenrealismus ohne Wohnküche. Da wird im leeren Raum kleinteilig mit Schriftzeugnissen hantiert. Da holt sich der König fürs Gespräch mit Posa eigenhändig einen billigen Holzstuhl herbei. Da wird gekniet und gebarmt, dass es eine Art hat. Der Großinquisitor darf auf Posas Leiche spucken und der Eboli unterläuft nach ihrer großen, von Sanja Radisic großartig gesungenen Arie ein divenhafter Abgang, obwohl sie doch eigentlich am Boden zerstört ist. Alles wirkt auf Zinnsoldatengröße verkleinert, minutiös beobachtetes Mikrotheater. Es kann nicht berühren.
Wenn nicht die Musik wäre. GMD Kazem Abdullah hat sich für die fünfaktige, sogenannte Modena-Fassung entschieden, die letzte von Verdi autorisierte. Im Orchestergraben ereignet sich das, was auf der Bühne fehlt: groß gedachtes Theater. Abdullah lässt die komplexe Architektur des „Don Carlo“ aus dem einzelnen Detail entstehen. Dabei wird er nie pointilistisch, sondern entwickelt, zumal im letzten Akt, einen ungeheuren, dramatischen Sog. Der Dirigent hat offenbar mit den Sängern intensiv an der Phrasierung gefeilt. Und er lässt transparent musizieren. Die wilden Kapriolen von Verdis wohl avanciertester Orchesterpartitur waren selten so klar zu hören. Die schreienden Flöten kurz vor Posas Tod, die wechselnden Begleitinstrumente, die Elisabettas Riesenarie zur spannenden Psychostudie machen, sind nur zwei Beispiele. Chor und Orchester folgen ihrem GMD mit Begeisterung. Man möchte fast von Liebe sprechen.
Und Aachen hat, vielleicht die größte Überraschung des Abends, bis zu den Flandrischen Deputierten hinunter ein Ensemble, das diesem Riesenstück gewachsen ist – und zwei herausragende Sängerdarsteller. Wong-jo Choi führt seinen mächtig ausladenden Bass subtil und bruchlos. Nach Filippos großer Arie ist es tatsächlich einen Moment lang still auf der Premiere. Und Andrea Shins entspannt geführter, leicht verhangen timbrierter Tenor ist ideal für die Titelfigur, deren ständiger Leidensdruck bei ihm nie larmoyant wirkt, sondern tatsächlich berührt.
Wenn jetzt noch auf der Bühne etwas gewagt worden wäre…