Dies alles und noch viel mehr erfahren wir in „The Crazy Antiwar History Rallye“, dem als „Rockmusikdrama“ angekündigten Bühnenwerk des Dichters Wolfsmehl alias Michael Kumeth. Im März 2018 gab es bereits drei als „Pre-Production“ bezeichnete Aufführungen im Stadttheater Minden, jetzt die offizielle Uraufführung im Rahmen der Ruhrfestspiele im Theater Marl. Im November sind weitere Gastspiele am Théâtre National du Luxembourg geplant.
Viel Sägemehl rieselt während der gut 100 pausenlos durchgespielten Minuten in Marl, ähnlich trocken wie all das, was in dieser gefühlt sehr langen Zeit auf der Theaterbühne passiert. Wolfsmehl bietet nämlich nicht viel mehr als die Präsentation wilhelminischer Monologe, kommentiert von dem armen Ilsemann. Ab und an läuft „Unsere Deutsche“ über die Szene, eine Frau, die offensichtlich mit der Beschaffung der zu verarbeitenden Baumstämme zu tun hat. Schließlich gibt es noch den personifizierten Tod, der am Ende erwartungsgemäß die kaiserliche Hoheit in die Tiefe der Gruft zieht.
Ehrlich gesagt ist dieses Rockmusikdrama wenig „crazy“. Gut, es gibt zwischendurch mal ein paar Witzchen, aber die sind blitzschnell wieder vergessen. Und wenn es eine „History Rallye“ sein will, dann eine im Schneckentempo: denn über Wilhelms Exil-Jahre etwas zu erfahren, gelingt beim Lesen des entsprechenden Wikipedia-Eintrags mit ungleich rasanterer Geschwindigkeit und weitaus weniger langatmig, um nicht zu sagen: langweilig. Wolfsmehls Drama hat auch inhaltlich nicht mehr zu bieten als das Lexikon, hier transportiert in Form wörtlicher Rede. Da wird die freudlose Kindheit des Sohnes von Königin Victoria und Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen aufgeblättert, outet er sich mit markigen Sprüchen als überzeugter Militarist, wettert er gegen Hindenburg und Ludendorff und später „die Juden“.
Überhaupt wird viel geredet in diesem Musikstück. Viel zu viel. Und oft ein und dasselbe. Kein Mensch aus dem Publikum wird je Wilhelms Säge-Rekord von 88 Stämmen vergessen. Und dass er felsenfest davon überzeugt war, er könne das deutsche Kaiserhaus sozusagen wieder „great again“ machen!
Weshalb Wolfsmehls „History Rallye“ ein Antikriegsstück sein soll? Bleibt schleierhaft. Und die Musik von Sebastian Lohse? Nett! Freundlich! Soft und zart, bis auf eine Handvoll Ausbrüche, bei denen das Schlagzeug mal ordentlich draufhauen durfte. Aber ansonsten Liedhaftes, mal ein bisschen Blues, ein bisschen Country und mitunter auch mal ziemlich nerviger Rap. Insgesamt weit entfernt von einem musikalischen Drama.
Die Darsteller machen grundsolide Arbeit und mobilisieren viel Energie, allen voran Susanne Bredehöft (Wilhelm II.) und Thorsten Heidel (Sigurd von Ilsemann) bei ihrem Sägemarathon; Uli Pließmann ist der mit rot lackierten Fuß- und Fingernägeln sowie geschliffener Axt ausgestattete Tod, Brigitte Urhausen die „Deutsche“, Jubril Sulaimon der „Amerikaner“ mit schwarzafrikanischen Wurzeln, der dem Kaiser dessen Untaten im Südosten seines Heimatkontinents in Erinnerung bringt. Christian von der Goltz, David Hagen und Matthias Trippner bilden die Combo, die in dieser wortlastigen Produktion überschaubar viel respektive wenig zu tun hat. Alles in allem ein dürftiger Abend ohne Botschaft für uns Heutige, hundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs und der Regentschaft von Wilhelm Zwo.