Foto: Phyllis Tates "Der Untermieter" in Bremerhaven © Heiko Sandelmann
Text:Jens Fischer, am 7. Juni 2018
Düster ist es. Dunkelstbraune bis schwarze Raumelemente lassen ein viktorianisches Wohnzimmer wie von Geisterhand aus immer neuen Perspektiven entstehen. Garniert mit kerzenfunkelhellem Lichtpunkt und flackernden Gaslichtern (Ausstattung: Julia Przedmojska). Als Gestaltwandler bespielen zudem Nebelschwaden zeitlupenartig die große Bühne des Stadttheaters Bremerhaven. Mittendrin: ein Ehepaar, in puritanischer Verhärmtheit erstarrt. Sie strickt, er mault vor sich hin. Der Ofen ist aus, Geld für Kohle fehlt. Wider die Armut wird per Aushang ein Mieter für das leerstehende Zimmer der auf Freiersfüßen mit einem Polizisten herumtollenden Tochter gesucht. Die Musik nimmt der Szenerie sofort jede Tea-Time-Heimeligkeit und taucht sie mit finster dräuender Klangmalerei in eine bedrohliche Atmosphäre.
Ein Sprecher aus dem Off führt ins Geschehen ein. Schon taucht aus dem Nichts ein Mann in Gentleman-Verkleidung auf (Vikrant Subramanian), formvollendet höflich sein Verhalten, steif gerade die Haltung. Er wünscht, das Gästezimmer zu sehen. Zahlt Miete gleich üppig im Voraus. Tür zu. Bald murmelt er mit fanatisch stierem Blick irgendwas Apokalyptisches aus der Bibel, formuliert zwischendurch Empörungssentenzen wider die Hurerei und beginnt, sich selbst zu kasteien. Auch ein Aktgemälde erntet sein Missfallen – und wird aufgeschlitzt. Der Schlitzer! Schon nach wenigen Minuten wird so die klassische Wer-ist-der-Mörder-Spannung gemeuchelt.
„Der Untermieter“ in der gleichnamigen Kriminaloper von Phyllis Tate (1911-1987) ist kein anderer als Jack the Ripper. Da die britische Komponistin als Vorlage den 1913 erschienenen Serienkillerroman von Marie Belloc Lowndes gewählt hat, wird nun kein Splatterspektakel aus Fleisch und Musik initiiert, sondern nostalgisch mit Stilmitteln britischer Krimiliteratur gespielt. Und beispielsweise eine Figur mal psychologisch genauer betrachtet. Der Prostituierten hassende Mörder kommt dafür nicht in Frage, der ist einfach nur ein Psychopath. Vielmehr soll die Vermieterin Emma das Interesse des Publikums wecken. Mit faszinierend sprödem Mezzo findet Patrizia Häusermann die ideale Stimmlage für die Rolle. Agieren tut sie mit versteinerter Miene. Möchte verbergen, was in ihr brodelt. Ihr Problem ist weniger Todesangst im Angesicht einer Ikone des Bösen als die Befürchtung, die großzügigen Mietzahlungen wieder zu verlieren. Im Konflikt liegen ihre finanzielle Not und ihr moralisches Pflichtgefühl als gesetzestreue Bürgerin, Jack the Ripper der Polizei auszuliefern.
Schließlich entwickelt sie ein religiös infiziertes Helfersyndrom und erfindet immer neue Vertuschungstaktiken, damit alles bleibt, wie es ist, und ihr Gatte, Schwiegersohn in spe sowie die Tochter nicht merken, wer sich da unterm Dach einquartiert hat. Daraus bezieht das Stück seinen Reiz: Ständig droht Aufdeckung und damit vielleicht eine Metzelei.
Inhaltlich ist kein Grund zu erkennen, warum dieser Stoff anno 2018 auf die Bühne muss. Geschrieben hat Tate ihr Werk für eine Studentenaufführung der Royal Academy of Music. Dort wurde im Juli 1960 Uraufführung gefeiert. Die BBC habe noch eine Radiofassung produziert und zu einer konzertanten Vorstellung sei es bei einem Vergessene-Opern-Festival gekommen, hat die Dramaturgie des Theaters Bremerhaven recherchiert. Mehr Öffentlichkeit sei der Oper bisher nicht zuteil geworden. Nun also die Entdeckung zum Spielzeitfinale in Bremerhaven – als deutsche Erstaufführung.
Die Partitur erweist sich nirgendwo neutönerisch oder originalitätssüchtig, weiß aber fantasievoll und farbenprächtig Stimmungen zu erzeugen, für einen Moment zu verstören und das An- und Abschwellen der Angstschweißdrüsen zu animieren. Ein Soundtrack erster Güte. Mit Zutaten einer klassischen Oper – wie Arie, Liebesduett, Orchesterzwischenspiele, Parlando-Rezitativen, einem Trinkerlied als Kneipenchornummer und Ensembleszenen zum großen Aktfinale. Ektoras Tartanis versucht am Pult, das Effektfeuerwerk in funkelnder Brillanz zu modellieren, aber dem Philharmonischen Orchester fehlt vielfach die spritzige Präzision. Transparent ausgeleuchtet aber werden die Mittel, Unheimlichkeit zu vertonen. Das ins Deutsche übersetzte Libretto ist häufig schlecht zu verstehen, leider wurde auf Übertitelung verzichtet.
Regisseur Sam Brown widmet sich dem Konversationsstück mit bleiernem Ernst und kühler Stilisierung. Es wird also nicht emotional ausgespielt, sondern gestisch symbolisiert – so zeigt Emma ihre Not, indem sie sich selbst würgend an die Kehle greift. Auch zwei hübsche Gruselakzente sind zu bestaunen: Immer mal wieder werden Blut triefende Mörderhände auf die Bühne projiziert – und kurz scheinen die Opfer des Rippers tonlos schreiend hinter Gaze auf. Browns Lichtsetzung, Personenführung und Raumgestaltung sind von einer sachlich strengen Perfektion, wie man sie so überzeugend wohl noch nie in Bremerhaven gesehen hat. A well-made-production.