Foto: Familienfest in "Das Wasser im Meer" © HL Böhme
Text:Barbara Behrendt, am 19. September 2017
Auf der Drehbühne ein großer Quader, darinnen karge Stockbetten, dicht gereiht. In einem liegt der bald 80jährige Patriarch Stefan Riedl und wälzt sich von Albträumen an die Vertreibung geplagt hin und her. Ein kleiner Junge schleicht herum, der Alte will ihn berühren – der huscht davon wie ein Geist im Morgengrauen. Später: Flüchtlinge von heute, als Schwarz-Weiß-Projektion ins Innere des Würfels projiziert, sie drängen sich in die Ecke als fürchteten sie die Deportation.
Dieses Angstszenario aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs und der heutigen Flucht, diese nur im Zwischenreich angedeutete Vermischung der Generationen, ist eines der poetischsten Bilder, die der Regisseur Stefan Otteni für die deutsche Erstaufführung von Christoph Nußbaumeders Stück „Das Wasser im Meer“ findet.
Solche Momente, in denen der Abend über die reine Zimmerschlacht hinaus geht und Räume öffnet, sind allerdings rar – was hauptsächlich an der Textvorlage liegt: Nußbaumeder, ein sozialkritischer, psychologisch differenzierter Dramatiker, hat sein Stück (ursprünglich ein Auftragswerk fürs Landestheater Linz) im Stil des Familienfeiergemetzels à la Tracy Letts’ „Eine Familie“ geschrieben. Und da müssen nun einmal tausenderlei Enthüllungen abgearbeitet werden. Ausgangspunkt der Schlacht ist die Feier zum 80. Geburtstag des alten Riedl. Der teilt seinen drei Töchtern plus Anhang (falls vorhanden) hier seinen Entschluss mit, zu Fuß zurück in die alte Heimat Böhmen gehen, dort sterben und begraben werden zu wollen. Die Töchter sind entsetzt, wollen den Vater, hauptsächlich aus egoistischen Gründen, abhalten.
Welche Figur auch immer die Bühne betritt, man spürt sofort: Der Firnis unter ihr ist dünn – nach ein paar Flaschen Wein und zerschlagenem Porzellan wird sich der Boden auftun. Und so kommt es auch: Da ist der Vater, der nicht nur Opfer und Vertriebener ist, sondern seine Töchter in die Leben gezwungen hat, die sie heute führen; der Ehemann der ältesten Tochter, der lieber die mittlere gehabt hätte; der vermeintlich neue Freund der mittleren, den die allerdings dafür bezahlt, dass er ihrem Vater beim Fest ein glückliches Privatleben vortäuscht – dieser Freund ist wiederum ein alter Bekannter der ältesten Tochter, der ihr erzählt, dass das 80-jährige Geburtstagskind damals ihren mittellosen Freund bestochen hat, damit der sich aus dem Leben der Tochter und des gemeinsamen Kindes heraushält. Der Enkel ist Rassist – und auch Opa wettert gern mal gegen die Flüchtlinge in der Turnhalle des Dorfes, vor denen man besser die Türen abschließt.
Es fließt viel Alkohol an der obligatorischen weißen Festtafel, am Ende auch Blut – und ein Déjà-vu aus den Clan-Kämpfen eines Edward Albee, eines Lars von Trier oder einer Yasmina Reza folgt auf das nächste. Allerdings ohne deren zielsichere, bissige, schwarzhumorige Pointen.
Dieses viel zu enge Familienfest-Korsett schnürt den so virulenten, wie überzeitlichen Themen des Stücks die Luft ab. Nußbaumeder stellt psychologische und historische Fragen, wie: Was ist Heimat – der Sehnsuchtsort der Kindheit, oder jener, an dem man den größten Teil seines Lebens verbracht hat? Kann man das, was die Vertriebenen durchlitten haben, mit dem Leid der Flüchtlinge heute vergleichen? Wiegt der Schmerz der Vertriebenen weniger, weil sie Schuld auf sich geladen und fürs Nazi-Regime gekämpft haben? Kann man das Leid der einen Generation gegen jenes der nachfolgenden aufrechnen? Werden kriegsbedingte Traumata an die Kinder und Enkel weitergereicht?
Nußbaumeder ist so geschickt, sich nur langsam über den individuellen Begriff von Familie, Heimat und Zugehörigkeit und über den der deutschen Vergangenheit zur Frage vorzuarbeiten, was Flüchtlinge der Gegenwart wohl verloren haben müssen, wenn sie in Europa ankommen.
Bernd Geiling spielt den im Zentrum stehenden Patriarchen wunderbar gebrochen: ein schmerzverzerrter, alter Mann, der von seinen Erinnerungen schrecklich heimgesucht wird – aber mit einem Unverständnis und einer Brutalität seinen Mitmenschen gegenüber agiert, dass man zwischen Abscheu und Mitleid schwer entscheiden kann. Wenn er die am Ende totgeschlagene Katze, das einzige Lebewesen, das ihm nahe stand, wie ein kleiner Junge unters Jackett packt und mit leisem Wimmern ins Lager-Bett trägt, ist das todtraurig. Auf die überfrachtete, ermüdende Struktur des Familienfeier-Kammerspiels hätte man da gut verzichten können.