Szene aus "Heilige Schrift I"

Niemandswald

Wolfram Lotz: Heilige Schrift I

Theater:Münchner Kammerspiele, Premiere:14.05.2022 (UA)Regie:Falk Richter

Mehr als 900 Seiten Text und Texte, weniger als zwei Stunden Spiel im Theater. Natürlich ist in der Therese-Giehse-Halle der Münchner Kammerspiele nur ein minimaler Zugriff möglich auf das monströse Dauer-Schreib-Projekt des Autors Wolfram Lotz – und mehr ist auch gar nicht beabsichtigt. Seit Sommer 2017, also noch in der Zeit vor der Bundestagswahl jenes Jahres (nur zur Erinnerung: Die brachte Angela Merkel den letzten und schon sehr gründlich verkorksten Sieg, parlamentarische Rechtsaußen-Konkurrenz inklusive), hatte sich der avancierte Einzelgänger eingenistet weitab aller Zentren in einem kleinen französischen Dorf, irgendwo im Nirgendwo. O. und E. waren dabei, seine Kinder, die unter anderem mit Lego-Bausteinen werkeln. Papa Wolfram war derweil auch noch mit dem Text über „Die Politiker“ beschäftigt – dieser Litanei und Gardinenpredigt, die seither auf zahlreichen Bühnen erkundet worden ist.

Der eigentliche Schreib-Plan war aber viel fundamentaler – ein Jahr lang wollte der Schriftsteller sammeln und notieren, was immer ihm so durch’s Hirn spukte Tag für Tag. „Klauen“ wollte er auch (das bekundet er jedenfalls im Hörspiel-Text, den Falk Richter dem Publikum der Münchner Uraufführung in den ersten zwölf Minuten der Uraufführung per Kopfhörer kredenzt) – was immer klauenswert erscheint, auch das Belangloseste, Fernsehschnipsel zum Beispiel, durfte und sollte Eingang finden können im Text-Marathon. Frech und munter grenzt Lotz sich vorsichtshalber schon im Kopfhörer ab gegenüber all jenen, die sich schon mit ähnlichen Selbsterkundungstrips beschäftigten – mit Peter Handke etwa oder dem norwegischen Autor Karl Ove Knausgård möchte Wolfram Lotz möglichst gar nichts zu tun haben.

Installation voller Gedankenrauschen

Womit aber dann? Wenn sich das Publikum nach der Hörspiel-Eröffnung durch fünf Türen in die Raum-Installation von Richter und Bühnenbildnerin Heike Schuppelius begibt, bekommt es viel zu sehen und zu hören – aber kein „roter Faden“ ist in Sicht. Orientierung? Nirgends und nie.

Mal lesen die acht beteiligten Schauspielerinnen und Schauspieler Jugend-Erinnerungen aus Notizheften vor, etwa an die heimatlichen Fähnchen, die das gebürtige Hamburger Kind Wolfram einst gern platzierte zur Familienurlaubszeit auf den Zinnen der Strand- und Sandburg, auch an (genau!) Lego-Steine und erste Musik-Begeisterungen, an mehr oder weniger prägende literarische Begegnungen etwa mit Douglas Adams (der vor 40 Jahren Arthur Dent und Ford Prefect in der Roman-Reihe „Per Anhalter in die Galaxis“ auf Reisen schickte), mit Bert Brecht oder Heiner Müller. Masken füllen die Regale in einem der Zimmer dieser Haus-Installation: Brecht mit Zigarre, aber auch ein schon sehr zerknittertes Peter-Maffay-Lookalike. Immerzu wird irgendwas erzählt, und auf mehrere Tische verteilt sind auch die über 900 Lotz-Seiten immer präsent. Die Reihenfolge ist schnuppe und schnurz, zielstrebig bringen die Spielerinnen und Spieler das Papier immer wieder stapelweise durcheinander. Fernseh-Bilder aus der Vor- und Nach-Wahl-Zeiten ab 2017 flimmern dazu. Und wer will, bekommt auch die VR-Brille aufgesetzt – dann sind wir im Wald. Und eine Art Tiger auf zwei Beinen greift uns an.

Da ist kein Zusammenhang, da sind nur jede Menge Details. „Heilige Schrift I“ mag das für den Autor sein, der sich sehr bewusst und vorurteilsfrei all dem aussetzen will, was als weißes Grund-, Hinter- und Untergrund-Rauschen präsent ist in seinem Leben. Eilige Schrift ist das aber auch. Und vorurteilsfrei? Naja – Lotz verteilt fleißig Ohrfeigen, Kinnhaken und Tiefschläge; vor allem, wenn er auf Kolleginnen und Kollegen zu schreiben kommt – und das ist oft der Fall. Moritz Rinke ist so etwas wie der Lieblingsfeind. Im dritten Teil wird dann zwar nicht Rinke, doch mancher andere aus der Kollegenschar ins Rampenlicht gezerrt zum Zwecke der Entlarvung.

Aus dem Erinnerungs- und Beschwörungszimmer des Wolfram Lotz führen Schuppelius und Richter uns weiter „in den Wald“; der war zuvor immer wieder präsent, im VR-Bildschirm wie in anderen Videos – nun stehen tatsächlich ein paar Baumstämme im Bühnenraum und drum herum zwitschert’s – wir sitzen auf Bänken und schauen einer Schreckensparade der Eitel- und Albernheiten zu.

Der Bundespräsident und die Literatur

Frank-Walter Steinmeier hatte (und hat) ja die Angewohnheit, Kolleginnen und Kollegen aus dem Kulturbetrieb mit auf Auslandsreisen zu nehmen. Auch bei Theaterleuten wie Steinmeiers Marburger Studienfreund Christoph Nix war das so. Die Begegnungen von Kunst und Politik füllen das letzte Drittel der Lotz-Erkundung – einer mit der Maffay-Maske aus dem Regal singt und klampft, Steinmeier klopft eitlen literarischen Selbstdarstellern auf die Schultern und fühlt sich bedroht von der Schriftstellerin Juli Zeh; rot glühen deren Augen und selbstgeerntete Brandenburger Birnen hat sie auch dabei. Hilfe! Das Pandämonium im Wald zeigt recht deutlich, wovon sich Lotz im lieblichen Wald beim französischen Dorf eigentlich unbedingt fernhalten möchte – der Abend endet mit einem kurzweiligen Alptraum-Spiel.

Bilanzen sind hier schwer zu ziehen – denn Falk Richter folgt Wolfram Lotz ja konsequent unordentlich ins Unterholz. Das Münchner Ensemble hat viel Spaß, wie es so durch den Niemandswald driftet, und es kommt uns auch nahe – wenngleich der Abend kaum je das Mode-Kriterium der „Immersivität“ derart grundsätzlich erfüllen könnte und wollte wie das gerade das dänisch-österreichische SIGNA-Kollektiv vorführt in der Hamburger „Außenstelle“ vom Berliner Theatertreffen. Kaum zu sagen ist derzeit auch, ob die „Heilige Schrift “ des Wolfram Lotz noch irgendwo anders hinführen könnte – dies war ja erklärtermaßen nur Teil 1. Ein paar Dutzend weitere Varianten könnten natürlich folgen – aber ob das wirklich lohnt?