Laut war der Protest vor dem Theater – und trotzdem schwer verständlich: Kirill Serébrennikow, der nun wirklich genug Repressalien durchlebt hat im eigenen Land, ist hierzulande plötzlich zum Feind geworden – weil er Russe ist, wie scharf auch immer er den Krieg gegen die Ukraine immer verurteilt hat. Und weil er sich nun (angeblich) ur-ukrainische Kultur angeeignet habe: „Schande“ über das Theater, das so etwas möglich mache. Der Mit-Autor Pankrukhin allerdings ist Ukrainer, und Nikolai Gogol gilt vermutlich auch weiterhin als russischer Klassiker, obwohl er 1809 in der ukrainischen Poltawa-Provinz zur Welt kam … und die Agressoren aus Russland wurden im Stück nie und nirgends zu Opfern erklärt – auch das hatten die Protest-Parolen behauptet.
Peinlich war das schon. Zum einen war ja reichlich internationales Publikum nach Hamburg gekommen, zum anderen haben Pankrukhin und Serébrennikow ein Stück geschrieben, dass diesen Krieg wie jeden anderen als Wurzel allen inhumanen Grauens kenntlich werden lässt. Und das dürfen nicht nur Ukrainerinnen und Ukrainer.
Das Unerzählbare
In einer Art Keller hat sich eine (vermutlich ukrainische) Familie versteckt, vielleicht ist das die alte Turnhalle einer Dorfschule mit einem Basketball-Korb. Drei Söhne und ein Großvater halten dort einen russischen Soldaten gefangen. Voller Rache-Gelüste sind die Jungen, aber der Alte hat einen anderen Plan: Der Gefangene soll der toten Schwester der drei Brüder vorlesen; vielleicht sei sie ja so wieder zum Leben zu erwecken in ihrem Schneewittchen-Sarg aus rohen Brettern, an dem der Vater sitzt und voll Trauer zu keiner menschlichen Regung mehr fähig ist.
Und tatsächlich – der stumme Soldat liest zwar nicht wirklich aus Shakespeares „Romeo und Julia“, aber alle anderen sind wie infiziert von der Lektüre und sprechen sie; das Mädchen auch. Und wie sie beginnt nun auch alles andere zu leben in diesem wüsten Kellerloch, zumindest für kurze Augenblicke. Auch der russische Gefangene begegnet plötzlich seiner Mutter, die ihn ziehen in den Krieg ließ und noch immer auf Vorteile danach zu hoffen scheint.
Immer wieder aber zwingen Szenen von schmerzhafter Härte die Allgegenwart des Krieges vor den Kellerfenstern zurück ins Bewusstsein der Eingeschlossenen drinnen. Sogar die Bäume draußen sind ja abgeholzt – die Familie könnte den Fremden nicht mal aufhängen. Die Brüder erzählen Unerträgliches und eigentlich Unerzählbares – von Massen-Erschießungen etwa …
Vernichtende Blicke
Nach Shakespeare zu Beginn kommt dann plötzlich Gogol ins Spiel – und eben „Der Wij“: ein mythisches Monster, eine Art Rachegeist aus der slawischen Volksmythologie, der jeden und jede mit Blicken töten kann. Deshalb bedecken bodenlange Lider und Wimpern die Augen – wenn die gehoben werden, ist der Blick des Wij vernichtend. Schon in einem Text fürs „Spiegel“-Magazin gleich nach Kriegsbeginn hatte Serébrennikow dieses Bild beschworen: dass die Lider wieder gehoben werden und die Völker der Welt dem Krieg wieder ins Auge blicken müssten.
Der verzweifelte Vater vom Beginn wird nun zum Zerstörer-Geist. Serébrennikow lässt ihn allerdings als ziemlich abgeranzten Pop-Sänger und Show-Master auftreten – und entschärft damit die Kraft der Figur leider beträchtlich. Aber dieser Wij verteilt nochmal deutlich die Rollen – der gefangene Soldat kam als „Befreier“ (wie es die russische Propaganda seit Beginn des Krieges und im Grunde bis heute behauptet), er gehört zu denen, die den unversöhnlichen Hass hervor gerufen haben, der ihnen derzeit entgegen schlägt.
Schuld und Verzweiflung
Und schließlich beginnt auch der geschundene Soldat zu sprechen – in tiefster Verzweiflung darüber, Teil dieses Systems der Vernichtung geworden zu sein. Schuldig bekennt er sich … Krieg – das zeigen Pankrukhin und Serébrennikow – kennt nur Verlierer, keine Sieger.
Der Text in Hamburg mäandert wüst und wild hin und her zwischen Kriegsgräueln und literarischem Zitat; auf einer Art Abraumhalde verzweifelter Emotionen. Das russisch-ukrainisch-deutsch durchmischte Ensemble beschwört Schrecken und Schmerz mit exzessiver Energie. Die Aufführung geht derart an die Nieren, dass es der allerletzten Regie-Anweisung gar nicht bedürfte: Keinen Applaus bitte.
Und bitte auch keinen Protest mehr auf der Straße gegen eine Theater-Arbeit, wie sie angemessener kaum sein könnte in Zeiten des Krieges.