Drei weibliche Personen halten sich in den Armen. Dahinter sieht man auf weißem Hintergrund aufgemalt eine Zuganzeige mit dem Fernziel Kyjiw

Niemand muss Angst vor lauten Geräuschen haben

Natalka Vorozhbyt: non-existent

Theater:Schauspiel Essen, Premiere:24.02.2024 (UA)Regie:Andreas Merz-Raykov

Natalka Vorozhbytsnon-existent“, ein Auftragswerk des Schauspiel Essen, zeigt die Vertriebenenperspektive dreier Generationen. Andreas Merz-Raykovs Regiedebüt in Essen bedient alle Aspekte einer schwarzhumorigen Komödie.

Ein Abend zum Lachen? War es tatsächlich. Dabei handelt Natalka Vorozhbyts Auftragswerk „non-existent“ für das Essener Schauspiel vom Krieg. Und von denen, die deswegen Heimat, Leben und ein Stück Existenz verlieren. Auch ihre letzten in München uraufgeführten Werke „Bad Roads“ (2019) und „Green Corridors“ (2023) thematisieren die Unvorstellbarkeit der Kriegsrealität.

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Oma, Mama und Tochter sitzen um einen Tisch beim Essen. Marija (Ines Krug), Orysja (Sabine Osthoff) und Daryna (Beritan Balci) sind vom Krieg aus der Ukraine vertrieben worden. Sie sind in Deutschland, haben ein Dach über dem Kopf, eine Arbeit, Schule. Das bedeutet doch Sicherheit. Nur irgendwas stimmt nicht, kein Appetit, eine spürbare Anspannung. Als es plötzlich laut klopft, ist der Schreck groß, dabei ist es nur der Nachbar von oben, Josef, mit seinem Kater, Tschechow.

Aufrechterhalten von Normalität

Es gibt keine Kriegsverherrlichung. Papa Walik (Philipp Noack) versteckt sich in Kyjiw vor der Einberufung in der Wohnung. In Uniform vor der Kamera spielt er seiner Tochter nur vor, er sei an der Front. Währenddessen organisiert seine Frau Orysja von Deutschland aus die Renovierung der gemeinsamen Kyjiwer Wohnung, ein Aufrechterhalten von Normalität und Sinn. Tochter Daryna und der Oma erzählen die Eltern, in der Wohnung lebten jetzt aus einer anderen ukrainischen Region Vertriebene, worüber sich Oma sehr aufregt: „Du lässt einfach irgendwelche Flüchtlinge in die Wohnung?“

Im Hintergrund die Projektion einer Person in Soldatenuniform mit Helm vor ukrainischer Flagge. Schräg rechts davor eine Frau am Bügelbrett, die zur Projektion aufschaut

Philipp Noack (Walik) und Sabine Osthoff (Orysja) © Nils Heck

Viele Erzählstränge kommen zusammen, wodurch der Abend manchmal etwas ausfasert, dafür aber ein mehrschichtiges Bild zeichnet: Tochter Dariya findet sich in Kriegsvisionen wieder, in denen sie selbst gemeinsam mit ihrem Vater an der Front kämpft und von russischen Offizieren gefoltert wird. Dann wieder ist sie in der Schule und muss ein Mädchen trösten, das Angst im Dunkeln hat; dabei hat es in seinem sicheren, deutschen Luxusleben gar keinen Grund, überhaupt vor irgendwas Angst zu haben, oder? „non-existent“ eben wie zerstört, weg oder unvorstellbar, bis die Realität passiert. Die Existenz aller drei Frauen hat sich verändert: Oma Orysja freut sich bei der Essensplanung über Porridge, das ukrainische Wort für Haferbrei, каша, hat sie mittlerweile vergessen. Zwischendurch tritt Olaf Scholz (Lene Dax) auf, zählt eine Liste an gelieferten Waffen an die Ukraine auf, bevor er vor weiteren klaren Antworten flüchtet.

Beliebigkeit von Existenz

Der Leidtragendste von allen aber ist der mitgeflohene Kater der Familie, der rote Faden der Komödie. Jan Pröhl kostet die Rolle des Katertiers wunderbar aus, würgt minutenlang an einem Haarbüschel, schreit von seiner posttraumatischen Belastungsstörung, maunzt von der politischen Debatte mit der Nachbarkatze Tschechow.

Oksana Zhuk, Mariia Apostolova und Lidiia Hontariuk sind die wirklichen aus der Ukraine Vertriebenen, sind Tochter, Mama und Oma. Als Statistinnen sind sie die ganze Zeit mit von der Partie, kochen im Hintergrund, zucken hilflos die Achseln vor der dargestellten Unfassbarkeit der Realität. In musikalischen Intermezzi wird von allen abwechselnd oder zusammen ukrainische Musik gespielt und gesungen, wird aus eingespieltem Sirenenalarm plötzlich ein Volkslied. Natalka Vorozhbyt fragt mit „non-existent“ nach der Beliebigkeit von Existenz. Woran halten wir fest und vor dem Ende welcher Welt haben wir Angst? Oft hört man von Publikum einvernehmliches, lautes Lachen, genauso oft aber bleibt es im Hals stecken: Unberührt bleibt an diesem Abend niemand.